Die Irren-Offensive
Nr. 11 Zeitschrift von Ver-rückten gegen Psychiatrie
Gerburg Treusch-Dieter
Genom und Gehirn
Die Psychiatrie im Kontext der JahrtausendwendeDrei Weltkongresse:
Biologische Psychiatrie, Neurowissenschaften, psychiatrische GenetikZukunftsfrohes
Der siebte Weltkongress der Biologischen Psychiatrie prophezeite 2001 im apokalyptischen Ton: "Wir durchschreiten das Tor ins nächste Jahrtausend" . Damit wurde der Anbruch einer 'neuen Zeit' angekündigt, der stets einen rettenden Kampf gegen den drohenden Untergang mit dem Ziel eines kommenden Reichs des Guten, bei gleichzeitiger Fesselung des Bösen, einschließt. In diesem Sinn versprach der Kongress die Heilung psychiatrischer Krankheiten im globalen Umfang. Allen Patienten in allen Ländern wurde eine Diagnose und Behandlung nach "internationalen Standards" garantiert. Gleichzeitig wies die Botschaft jedoch auch darauf hin, dass die "Probleme" dieser Heilung "enorm" seien. Denn ihre "Herausforderungen" schlössen ebenso enorme "Veränderungen" ein. Obwohl sie aus dieser Heilung resultieren, sieht sich die Biologische Psychiatrie im Kampf gegen den drohenden Untergang zur Rettung gerüstet, da sie bei ihrer Fesselung des Bösen mit den "dramatischen Entwicklungen" der Genetik und der Neurowissenschaften im Bunde ist.Auch diese Neurowissenschaften anoncierten bei ihrem ersten Weltkongress "brain 2000" ein Reich des Guten. Doch sie argumentierten nicht eschatologisch, sondern positivistisch. Denn dieser Kongress rief die Hirnforschung zur führenden Wissenschaft des 21. Jahrhunderts aus, indem er auf der "Schwelle" des unter- und aufgehenden Jahrtausends das Gehirn als globales Organisationsmodell ankündigte, das in der Multidisziplinarität des Kongresses unter Einbeziehung der Künstlichen Intelligenz (KI) vorweggenommen sei. "Brain 2000" wies der Biologischen Psychiatrie 2001 folglich die Richtung bei ihrem Durchschreiten des "Tor" ins 21. Jahrhundert. Sie und die Neurowissenschaften werden auf diesem Weg in die Zukunft von der Genetik und der Informationstechnologie begleitet, was für die in Aussicht gestellten "Veränderungen" heisst, dass sich die KI-Industrie mit der Molekularbiologie des Gehirns vernetzen wird .
Der gemeinsame Weg schließt jedoch einen Unterschied zwischen Hirnforschung und Biologischer Psychiatrie nicht aus, da die sie angesichts des Anbruchs einer 'neuen Zeit' auf eine Restauration ihrer Institution abzielt, während die Hirnforschung eine Revlution des Wissens verficht. Kraft dieser "neurowissenschaftlichen Revolution" verspricht sie die Heilung "neuraler und mentaler Krankheiten" mit dem Ziel der Eroberung des Gehirns. Psychiatrisches Restaurations-, und neurowissenschaftliches Revolutionsprogramm stehen sich demnach auf ihrem Weg einerseits wie Vergangenheit und Zukunft gegenüber, obwohl sie auf diesem Weg zum Reich des Guten andererseits im Bunde sind, der durch die Neurowissenschaften und die Genetik gestiftet wird. Wenn also die Biologische Psychiatrie auf ihrem siebten Weltkongress 2001 "Behandlungsgrundsätze der Geisteskrankheit" vertritt, dann steht diese Botschaft zur Eroberung des Gehirns nicht im Widerspruch. Im Gegenteil. Denn in dem Maß, wie beides auf den Neurowissenschaften und der Genetik basiert, gilt: revolutionäre Grundlagenforschung und restaurative Anwendung ergänzen sich.
Ausgehend davon formuliert die Biologische Psychiatrie ihre Rolle in der Geschichte der Psychiatrie neu. Denn diese aus Erbbiologie und Neurologie zusammengesetzte Rolle der 'Neurobiologie' war ab Wende 19./20. Jahrhundert bis 1945 von der Erbgesundheit und ihren eugenischen Praktiken der Sterilisation und der Euthanasie nicht zu trennen. Darum unterstellt die Biologische Psychiatrie ihre neu formulierte Rolle dem Motto '100 Jahre psychiatrischer Fortschritt' . Denn heute erweise sich, dass diese nach 1945 im eigenen Vaterland verkannte Rolle der 'Neurobiologie' immer schon eine prophetische gewesen sei, deren Heilsbotschaft heute neu begriffen wird. Und da die Offenbarung dieser einstigen Rolle nicht mehr auf der Erbbiologie und der Neurologie, sondern auf der Genetik und den Neurowissenschaften basiert, beruft sich die Biologische Psychiatrie darauf, dass sie heute keine "Teildisziplin" der wissenschaftlichen Psychiatrie mehr sei, sondern ihr "Rückgrat" .
Ein "Rückgrat" verbürgt den aufrechten Gang. Die Biologische Psychiatrie nimmt ihn für sich in Anspruch, indem sie das Wissen der Molekularbiologie und der Hirnforschung 'wertfrei' präsentiert. Dennoch trägt sie weder Molekulares noch Neurales im Namen, was die Frage nach dem Warum nahelegt. Nimmt man die "Biologische Psychiatrie" beim Wort dieses Namens, weist er nur einerseits auf Wissenschaft hin, auf diejenige der Biologie; andererseits benennt er eine Institution, diejenige der Psychiatrie. Im Namen der "Biologischen Psychiatrie" ist folglich die Biologie das Adjektiv eines Subjekts, das die Institution der Psychiatrie darstellt; anders ausgedrückt: im Namen "Biologische Psychiatrie" ist das "Biologische" die Eigenschaft des Hauptworts "Psychiatrie", was sowohl auf eine Unterordnung des Wissens unter die Belange der Institution als auch auf eine daraus resultierende Wissensreduktion verweist.
Geschichtliches
Diese Wissensreduktion stimmt mit Robert Castel überein, aus dessen Sicht die Psychiatrie zu keiner eigenen 'Wissenschaftlichkeit' imstande ist. Die Biologische Psychiatrie bestätigt dies unter der Bedingung, dass sie sich das Wissen der Neurowissenschaften und der Genetik integriert. Beides fundiert ihre "Behandlungsgrundsätze der Geisteskrankheit" um den Preis, dass das Wissen über die von ihr so genannte "Geisteskrankheit" in dem Maß schrumpft, wie es auf die "Behandlungsgrundsätze" der Institution angewendet wird. Dabei gilt, dass die Annahme der "Geisteskrankheit", umgekehrt, die eines 'gesunden Geistes' voraussetzt, der die Institution repräsentiert. Er ist ihr "Rückgrat" in der Vertikalen, dem in der Horizontalen der "Fall" gegenübersteht, soweit die Geschichte der Psychiatrie sich nach Foucault durch zwei Register strukturiert : einerseits durch das anatomisch-metaphysische Register der Geist-Körper-Trennung, das in der Vertikalen das Gesetz aufrechterhält; andererseits durch das politisch-technologische Register, auf dem in der Horizontalen die Behandlung des "Falls" angeordnet ist.Die Verwaltung des Gesetzes ist den Techniken der Behandlung vorausgesetzt, die ihrerseits medizinische sind und heute auf die Molekularbiologie und ihre gentechnischen Praktiken rekurrieren. Soweit sie auf die Eroberung des Gehirns abzielen, rezipiert die Biologische Psychiatrie die damit verbundene Wissensrevolution im Hinblick auf die von ihr so genannte "Geisteskrankheit"; gleichzeitig bezieht sie sich im Hinblick auf ihre "Behandlungsgrundsätze" auf die Restauration der Institution, das heißt: sie bringt sich einerseits mit 'Wissensanleihen' auf den für ihre Zukunft erforderten, jeweils neuesten Stand; andererseits hält sie am Gesetz des Staates und damit an ihrer Vergangenheit fest. Denn für dieses Gesetz gilt noch immer, was schon die Geschichte der Psychiatrie bestimmt: Abweichung von der Norm schließt, wenn sie 'auffällig' wird, die Einweisung in eine 'Anstalt' ein, woran sich trotz aller Modifikationen auf dem vertikalen Register nichts geändert hat, das, verbunden mit dem horizontalen Register, eine Lebensverwaltung und -behandlung konstituiert, die die Geschichte der Psychiatrie seit ihrem Ausgangspunkt um die Wende 18./19. Jahrhundert manifestiert.
In dieser Geschichte wird der "anthropologische Status" des "Falls" auf den Grundlagen seiner Verwahrung befragt, während er einer Prüfungs- und Laborsituation unterliegt, die sich auf dem vertikalen Register durch Überprüfung und Selbstprüfung, auf dem horizontalen Register durch Behandlungstechniken vollzieht, da jeder "Fall" seiner juridischen Kontrolle und seiner therapeutischen 'Besserung' gerecht zu werden hat. Institutionelles "Rückgrat" versus individuellem "Fall": dieser Gegensatz kennzeichnet die Geschichte der Psychiatrie, die in dem Maß "Rückgrat" zu lehren und den "Fall" aufzuhalten hat, wie ihr die Verwaltung und Behandlung der "transzendental-empirischen Konstruktion" des Menschen zukommt, der sich aus dem Geist der Aufklärung als sein eigener Ursprung konzipiert und dennoch an das Dunkel seines Körpers gebunden bleibt. Seinem Begriff von sich selbst als Subjekt soll ein Objekt entsprechen, was durchschaubar ist, doch es entzieht sich seinem Zugriff, ohne dass das Cogito, das "Ich denke (mich)", diese Spaltung von Subjekt und Objekt aufheben kann.
Obwohl gedacht, bleibt das Objekt undenkbar, wie immer es nach dem neuesten Stand des Wissens bezeichnet wird: Wende 18./19. Jahrhundert als Wahnsinn im Gegensatz zur Vernunft; Wende 19./20. Jahrhundert als Erbkrankheit im Gegensatz zur Erbgesundheit; heute, Wende 20./21. Jahrhundert, als Genom. Und doch trifft für das Genom nichts mehr davon zu, was bisher für die Geschichte von Subjekt und Objekt galt, da sich mit der Positivierung des Genoms die "transzendental-empirische Konstruktion" des Menschen aufhebt. Das Genom ist weder auf ein Subjekt noch auf ein Objekt bezogen, es steht zu nichts, auch nicht zu sich selbst, im Gegensatz. Wird ihm also die "genetische Identität" des Menschen zugeschrieben, tritt dieselbe, folgt man dieser Definition, jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt auf. Sie müßte also einen neuen Menschen bezeichnen; geht es aber weiterhin um den 'gehabten', ist diese "Identität" in einem Pseudo-Objekt platziert, dem kein Subjekt entspricht. Soll also das Genom mit der "genetischen Identität" des Menschen identisch sein, dann ist es sein, ihm gegenüber verselbständigtes Double; anders ausgedrückt: das Genom simuliert den Menschen in dem Maß, wie es ihn auf ein Double seiner selbst reduziert.
In diesem Double sei der Mensch durchschaubar geworden, dabei ist das Dunkel seines Körpers weiterhin vorhanden und dieses Double, obwohl gedacht, undenkbar. Unter dieser Bedingung wird heute, beispielsweise, ein Schizogen positiviert, das eine 'wahnsinnige' und 'erbkranke' Spaltung des Menschen als "Fall" molekularbiologisch belegen soll, obwohl sich das Genom, dem es entnommen ist, jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt situiert. Sofern also dieses Schizogen als Beweis für eine Subjekt-Objekt-Spaltung fungieren soll, gilt: es hat mit ihr nichts zu tun. Sie ist der Geist-Körper-Trennung und der ihr entsprechenden "transzendental-empirischen Konstruktion" des Menschen geschuldet. Unter diesem Schizogen ist also bestenfalls ein 'Nostalgie-Gen' zu verstehen, da es just zum Zeitpunkt auftritt, wo diese "Konstruktion" zusammengebrochen ist. Dennoch wird auf dem vertikalen Register dieser "Konstruktion" noch immer das 'Als ob' eines Begriffs des Menschen aufrechterhalten, obwohl er auf dem horizontalen Register zum molekularen Gewimmel von fünf Milliarden gepaarten Nukleotiden der DNS geworden ist. Zwischen Subjekt und Genom fällt jede Beziehung aus, obwohl sie der von Subjekt und Objekt zu gleichen scheint, aber diese Analogie ist Simulation, da das "Ich denke (mich)" als Genom undenkbar ist.
Abgedanktes
Die auf dem horizontalen Register der Behandlungstechnik entzifferte genetische Grundlage psychiatrischer Erkrankungen kann folglich nur im Sinne eines 'Als ob' auf den Begriff des Menschen übertragen werden, der dem vertikalen Register angehört. Denn dieser mit DNS-Sequenzen angefüllte Begriff hat seinen Sinn eingebüßt. Wie immer er in der Prüfungssituation zum Zweck der 'Besserung' eines "Falls" herbeizitiert wird: er taugt weder zur Überprüfung noch zur Selbstprüfung, sobald er durch eine "genetische Identität" begründet wird. Denn die Information der DNS ist durch eine solche Prüfung nicht zu beeinflussen, außer es wird in ihre Molekularstruktur eingegriffen, außer es werden die Gene eines "Falls" manipuliert. Von der Institution der Psychiatrie und ihrer Aufgabe, die "transzendental-empirische Konstruktion" des Menschen aufrechtzuerhalten, bleibt unter dieser Bedingung nur mehr die Laborsituation, in der gentechnische Experimente im Dienst der Neurowissenschaften unter Einsatz der für die Hirnforschung unverzichtbaren Informationstechnologie durchgeführt werden.Der Hirnforscher und Psychiater Detlef B. Linke sieht dem Einsatz dieser Technologie jedoch zukunftsfroh entgegen, indem er den entleerten Begriff des Menschen unter Bezug auf die Hirnforschung vollends abdankt: "Natürlich ist der Personenbegriff (in der Hirnforschung) nicht zugelassen, und sie kann ihre Ergebnisse auch nicht im Hinblick auf den Personenbegriff beschreiben" . Darum, so Linke, "ist es nicht mehr gestattet, die Grenze des Ichs oder der Selbstherrschaft am Schädelknochen festzumachen" . Statt dessen stellt sich angesichts der "Möglichkeit ... Rechnersysteme dem Gehirn einzupflanzen" nur noch die Frage: "Ob (der Mensch) sich selbst in ein technisches System verwandeln kann?" Wolf Singer, der Direktor des Frankfurter Max-Planck-Institutes für Hirnforschung, beantwortet diese Frage gleichfalls zukunftsfroh: "Seit wir wissen, dass Hirne elektrisch erregbar sind und dass Nervenzellen sich über elektrische Signale austauschen, implantiert man in zunehmendem Maß Elektroden bei Patienten, um motorische und künftig auch sensorische Störungen zu behandeln" .
Detlef B. Linke hätte angesichts dieser implantierten Elektroden die von ihm selbst gestellte Frage auch selbst beantworten können, da auch er expliziert, dass Transplantate "sich in die Rhythmizität der Hirnaktivität" einfügen, wenn Spender-und-Empfänger-Systeme synchron funktionieren: "Der Sprecher mit dem Hirnimplantat könnte (dann) zum Synchronsprecher für das Implantat geworden sein" . Wolf Singer führt diesen Schritt in die 'richtige Richtung' dahingehend weiter, dass der neuronale Code "schon jetzt" im Computer zu programmieren ist. Denn "schon jetzt" werden die "so genannten neuronalen Netzwerke" verwendet, die der Rhythmizität der Hirnaktivität näher sind, als die bisherigen Algorithmen. Darum sind von diesen Netzwerken "Durchbrüche" zu erwarten, sobald die mittels Experimenten "im Gehirn" erkannten "Verarbeitungsprinzipien" sich in entsprechende "Rechnerarchitekturen umsetzen lassen", die "so ähnlich funktionieren wie Nervenzellen": nicht mehr digital, sondern als Chips. Da sie "in relativ überschaubarer Zukunft zu bedienungsfreundlichen Spender-und-Empfänger-Systemen" führen, gilt "schon jetzt" in der Laborsituation ihrer Implantation: "Nichts zum Fürchten, Rechner, sonst nichts" .
Denn noch immer spukt im Gehirn ein Ich, was die Furchtlosigkeit vor Rechnern verhindert. Detlef B. Linke plädiert darum für eine "technologische Aufbereitung" des Gehirns, die es "von überflüssig anhaftenden Bedeutungen reinigt" , zu denen vor allem das "Repertoire von Identitätsbegrifflichkeiten" gehört. Sie kleben noch immer am Wort des Cogito zu einem Zeitpunkt, wo das Wort des Genoms angesagt ist, das sich in den DNS-Sequenzen des Gehirns ausspricht, indem es vom Cogito befreit. Sein "Ich denke" hat nach Detlef B. Linke ausgedient. Kein Zweifel, dass er selbst dieses "Ich denke" als Hirnforscher und Psychiater weiterhin für sich in Anspruch nimmt; kein Zweifel, dass er selbst sich im Schnittpunkt des vertikalen und horizontalen Registers unter juridischen und medizinischen Aspekten positioniert. In dem Maß aber, wie er in dieser Position für die Abdankung des "Ich denke" plädiert, in dem Maß löst sich die Verbindung von Selbstkontrolle und Kontrolle des "Falls" auf: er hat mit einem "Ich denke (mich)" nichts mehr zu tun, seine Selbstkontrolle auf dem vertikalen Register erübrigt sich; und die Kontrolle des "Falls", die ebenfalls auf diesem Register angeordnet ist, geht unter der Bedingung ihrer Technologisierung vom vertikalen auf das horizontale Register über, wo er sich mit der Genetik im Dienst der Hirnforschung vernetzt. Der juridische Aspekt verschwindet nicht, aber der medizinische Aspekt tritt in den Vordergrund, indem sich seine Behandlungstechnik in die einer 'Behandlungsinformationstechnologie' zur Eroberung des Gehirns transformiert. Wolf Singer verspricht sich davon in dem Maß, wie dann gelten könne, dass "mit der Arroganz des freien Willens Schluss ist", einen Zuwachs an "Humanität" .
Vorangetriebenes
Heilung heißt demnach in Zukunft, Heilung vom freien Willen eines Cogito, dessen "Ich denke (mich)" über die eigene Existenz entschied. Sollte der freie Wille dabei den Mund zu voll genommen haben, wurde er entmündigt, doch mit der Perspektive der Mündigkeit, die in Zukunft keine mehr ist. Wenn also die Biologische Psychiatrie auf ihrem Weltkongress 2001 annoncierte, dass die "Probleme" einer globale Standards garantierenden Heilung "enorm" seien, da sie ebenso enorme "Veränderungen" einschließen, dann ist diese Ankündigung auf die Heilung vom freien Willen durch die Ausschaltung des Cogito zu beziehen. Damit stimmt überein, dass das Cogito in der Hirnforschung und in der Genetik kein Ziel, sondern eine Behinderung darstellt. Denn das genetische und neurowissenschaftliche Wissen hat längst erwiesen, dass kein "Ich" existiert. Soweit sich die Biologische Psychiatrie im Bund mit diesem Wissen zur Fesselung des Bösen gerüstet sieht, ist anzunehmen, dass dieses Böse "in der Arroganz des freien Willens" besteht, in der es desto mehr auf seinen Nenner kommt, je mehr die Freiheit der Forschung diese Arroganz für sich in Anspruch nimmt.Dennoch erwies der Name der Biologischen Psychiatrie, dass die Institution der Anwendung des Wissens vorausgesetzt bleibt, da die Eigenschaft des "Biologischen" dem Hauptwort der "Psychiatrie" untergeordnet ist. Für die ihren sechsten Weltkongress 2000 durchführende "psychiatrische Genetik" trifft dies nicht mehr zu, da es sich bei ihr mit Haupt- und Eigenschaftswort umgekehrt verhält. Denn im Namen "psychiatrische Genetik" ist das Adjektiv "psychiatrisch" dem Subjekt "Genetik" untergeordnet, das heißt: die Genetik ist der Psychiatrie vorausgesetzt, die sich dabei zum Psychiatrischen depotenziert, das allem anhaften kann, was die Genetik identifiziert, ohne dass in dieser Entgrenzung eine Grenze zu setzen wäre. Denn die Genetik ist nicht mehr an die Institution der Psychiatrie gebunden, obwohl sie über das Psychiatrische mit ihr verbunden ist. Diese Spezifizierung ihres Wissens setzt jedoch angesichts dessen, dass die DNS jede Spezies definiert, in dieser Entgrenzung ebenfalls keine Grenze. Selbst wenn die "Psychiatrische Genetik" sich an die Anzahl der menschlichen Gene hielte, die 60.000 betragen soll, selbst dann können diese Gene durch den rekombinierenden Eingriff in die Molekularstruktur reduziert oder redupliziert werden, je nach dem, was aus der Gen-Diagnose resultiert.
Diese Gen-Diagnose ist demnach mit dem Problem konfrontiert, wie ihre psychiatrische Identifizierung der Gene von der genetischen Information als solcher zu unterscheiden sein soll, die eine, prä- und postnatal gültige, "genetische Identität" festlegt? Bei der Antwort auf diese Frage folgt die "psychiatrische Genetik" der Aufgabe, zu der das Protokoll ihres Weltkongresses bereits im Titel aufruft: "Kartierung menschlicher Gene vorantreiben". Laut dieses Titels ist die handelnde Instanz dieser Kartierung, die "psychiatrische Genetik", nicht nur anonymisiert, sondern sie ruft auch zu Unbestimmtem auf, da die bestimmten, Satzsubjekt und -objekt kennzeichnenden Artikel fehlen. Zu ihrer Aufgabe die "genetische Identität" auf kranke oder gesunde Gene hin zu inspizieren, steht dieses Unbestimmte im Widerspruch, außer man nähme eine so gänzliche Identifizierung der "psychiatrischen Genetik" mit ihrer Aufgabe der Kartierung an, dass auch der, zu ihr aufrufende, Titel sich wie eine DNS-Sequenz verhält, die das Fehlende, als einen ihr eincodierten Fehler, stets aufs neue wiederholt, während sie sich selbst abschreibt.
Der im Fehlen der handelnden Instanz bestehende Fehler hat zur Folge, dass diese Instanz sich durch ein Tätigkeitswort ersetzt: durch das Verb "vorantreiben", das sich aus sich selbst heraus zu bewegen und die Gene mit zunehmender Beschleunigung zu kartieren scheint. Ob diese Kartierung noch genetische Forschung oder schon psychiatrische Anwendung ist, kann in dieser Selbsttätigkeit, die kein Ziel zu verfolgen scheint, nicht mehr unterschieden werden. Damit stimmt überein, dass die Kartierung menschlicher Gene forschende Anwendung und angewandte Forschung ist. Definiert aber die "genetische Identität" den Menschen und also jeden "Fall", was die "psychiatrische Genetik" zugrundelegt, kann ihm das aus seinen Genen gebildete Wissen juridisch und medizinisch zum Verhängnis werden; ganz abgesehen davon, dass diese "Identität", laut Grundgesetz, sein Eigentum ist. Je mehr die "psychiatrische Genetik" die Institution der Psychiatrie infiltriert, desto weniger kann sie sich legitimieren, da in ihr die Medizin der Ordnung des Rechts angehört, die von der "psychiatrischen Genetik", ausgehend vom "rechtsfreien Raum" der Laborsituation, durchbrochen wird. Ihre forschende Anwendung entgrenzt die angewandte Forschung unter der Bedingung, dass die Genetik der Institution der Pyschiatrie sowohl innerhalb als auch außerhalb vorausgesetzt ist.
Natürliches
"Natürlich" verspricht die "psychiatrische Genetik" angesichts ihrer Entgrenzungen Grenzen: "Natürlich ist die Psychiatrische Genetik an Wertfragen gebunden" . Sollte sie nicht durch das Recht legitimiert sein, was natürlich der "Fall" sein könnte, ist sie es durch Natürliches. Die Sache der Natur liegt der des Rechts zugrunde, weil sie die Sache der Forschung ist. Ihr entspricht die Natur der Sache, die des Rechts der Anwendung. Alles geht mit natürlichen, sprich, rechten Dingen zu. Die Sache der Forschung stimmt mit der des Rechts der Anwendung überein, die ihrerseits ihren Wert in sich selber trägt. Natürlich. Ist die Sache der Natur 'die Sache nicht wert', dito. Alles Natürliche ist ein Problem der Sache selbst: der Sache der Gene. Jedenfalls ist es kein Problem der Natur der Sache, die in der Identifizierung, Kartierung, Diagnostizierung, Kontrolle und, je nach dem, auch in der Therapie der Gene besteht. Natürlich.Natürlich ist das, was nützt. Auch kranke Gene können natürlich sein. Der Wert der Gene ist wertfrei, weil sie natürlich sind. Ob sich aus ihrem Informationswert ein Lebenswert ergibt, hängt von der Antwort ab. Die "psychiatrische Genetik" sieht sich Wertfragen verbunden, die natürlicherweise fragen. Ihre Bewertung des Lebenswerts kann bis zum Unwert reichen. Natürlich. Dies schließt nicht aus, dass er wertfrei ist. Sein Informationswert kann verwertbar sein. "Alle Redner" des Kongresses "betonten", dass "genetische Krankheitsursachen" unter Einbeziehung ihrer "Umgebungsfaktoren" in der Weise analysiert werden sollten, dass "die Krankheit nicht ausbricht". Natürlich. Ihr Defekt ist vorausgesetzt und wird, ohne dass ein Krankheitseffekt je eingetreten ist, therapiert. Anwendung ist Forschung. Jeder kleinste, jeder winzigste, jeder kaum mehr bemerkbare Unwert wird kartiert. Anders gesagt: diese Forschung bringt durch ihre Anwendung die natürliche Sache einer Krankheit hervor, die nicht existiert und die doch therapierbar ist, da anders an die Gene nicht ranzukommen ist. Also produziert die Natur der Sache das, was sie zu verhindern vorgibt.
Wie die Gene als Sache der Natur aufgespürt, aufgestört und aufgescheucht werden, das folgt aus einer Pressemitteilung des Max-Delbrück-Centrums Berlin , welche die Kartierung als Treibjagd darstellt: "Neue, verfeinerte Verfahren bei der Gensuche, ermöglichen es inzwischen, Gene mit hoher Treffsicherheit in einzelnen Regionen des Erbguts auszumachen". In diesen Regionen pirscht die "psychiatrische Genetik" wie Tarzan im Dschungel des Erbguts, um ihre fälligen Feinde in eine Falle zu locken, die ihrem "Fall" entspricht. Denn "Fortschritte bei der Suche nach Genen" sind vor allem bei jenen zu verzeichnen, "die für psychische Störungen anfällig machen". Noch sind sie nicht eingetreten, diese Störungen. Doch diese Fälle verfangen sich bei allem, was der Fall ist, in ihren Schlingen: die Anfälligkeit ist da, vielleicht auch bald die Hinfälligkeit. Bis dahin werden hunderte von Genen kartiert worden sein und wenn ein "Fall" einen Anfall kriegt, gilt, so die Mitteilung, dass "Forscher einen bestimmten Abschnitt des Erbguts als Übeltäter ausgemacht haben".
Nicht übel, aber zu langsam. "Um die Gensuche zu beschleunigen, sucht man parallel nach bereits bekannten Genprodukten". Die für diese Produkte infrage kommenden Gene werden als "Kandidatengene" aufgestellt, denn es müssen nicht immer fällige Feinde im Dschungel des Erbguts sein, es können auch aufrechte Kandidaten im Labor parat stehen, deren Gene erst noch zu verifizieren sind. Dass Dschungel und Labor identisch sind, ist natürlich. Jedes Gen ein Treffer, dort wie hier. Je übler es um die "betroffene Region" des Erbguts steht, desto besser. Ausbeute erfordert Beute, damit der Abschuss sich lohnt. Darum, so die Mitteilung, werden "heute die Befunde aus vielen kleinen Familien ermittelt", in denen mindestens zwei Kinder psychisch gestört sein müssen. Sind sie es, werden in ihr Erbgut "Mikrosatelliten-Marker" mit "Markierungsfähnchen" eingeschleust, die den "Forschern als Orientierung" im Labor ebenso wie den Jägern im Dschungel des Erbguts dienen. Dass sich die "kranken Kinder" als höchst "ergiebig" erwiesen haben, wird in der Mitteilung des Max-Delbrück-Centrums abschließend bemerkt.
Funktionelles
Nach Castel löst die Psychiatrie ein juridisches Problem mit den Mitteln der Medizin. Heute transformiert sich dieses, bisher mit den Mitteln der Medizin gelöste, juridische Problem dahingehend, dass in diese Mittel die Informations- und Gentechnologie zur Steuerung des Gehirns eingeschaltet wird. Das "Ich denke (mich)" mit seinen "Identitätsbegrifflichkeiten" wird dabei ausgeschaltet. In seiner Konsequenz heißt dies, dass sich auch das juridische Problem erledigt. Denn es wird bei der Eroberung des Gehrins nicht mehr mit den Mitteln der Medizin gelöst, sondern mit einer 'Behandlungsinformationstechnologie', die in dem Maß auf dem horizontalen Register vollzogen wird, wie das vertikale Register des Rechts in der 'Luft hängen bleibt'. Soweit sie dem 'Geist' zugeschrieben wird, ist in ihm der 'Geist' der Institution der Psychiatrie zu erkennen, in der Recht und Medizin derselben Ordnung angehören. Doch in die Funktion dieser Ordnung tritt heute die Genetik in ihrer durch die Informationstechnologie vernetzten Verbindung mit der Hirnforschung ein.Damit wird die aus Recht und Medizin zusammengesetzte Ordnung der Psychiatrie der Möglichkeit nach außer kraft gesetzt, für die "Identitätsbegrifflichkeiten" eine Frage juridisch definierbarer Mündigkeit sind, der, wenn sie ausfällt, medizinisch 'aufzuhelfen' ist. Für die "genetische Identität" trifft weder das eine, die Mündigkeit, noch das andere zu, da ihr durch Gentechnik 'aufgeholfen' wird, die zwar mit der Medizin zusammenhängt, aber faktisch ist sie Teil der 'Behandlungsinformationstechnologie', die in die Funktion der aus Recht und Medizin zusamengesetzten Ordnung der Psychiatrie eintritt. Damit kehrt sich das Verhältnis von Ordnung und Funktion um: die Institution der Psychiatrie hat ordnungserhaltende Funktion; jene 'Behandlungsinformationstechnologie' ist eine Funktion, die sich durch ihre Vernetzung selbst erhält und an keine institutionelle Ordnung mehr gebunden ist. Ob es unter Bezug auf sie um die Genetik oder die Hirnforschung geht, macht keinen Unterschied, da beides im Begriff der Information und ihrer technologischen Verarbeitung kulminiert. Der Genetik kommt nur insofern Vorrang zu, als ihre Entschlüsselung des Genoms für die Neurowissenschaften und die KI-Industrie die Voraussetzung ist.
Die "psychiatrische Genetik" ist darum prototypisch für die Umkehrung von Ordnung und Funktion, denn ihre Kartierung der menschlichen Gene, bei der die forschende Anwendung von der angewandten Forschung nicht zu unterscheiden ist, treibt die sich durch ihre Vernetzung selbst erhaltende Funktion der 'Behandlungsinformationstechnologie' voran. In dem Maß, wie sie zur ordnungerhaltenden Funktion der Psychiatrie im Gegensatz steht, in dem Maß wirkt sie auf dem horizontalen Register des "Falls" im "rechtsfreien Raum". Denn der "Fall" kann überall auftreten, in der Institution der Psychiatrie und weltweit, da er sich auf das menschliche Genom als Double des Menschen reduziert, von dem niemand loszusprechen ist. Ihm kann immer Psychiatrisches anhaften, je nach dem, was die Genetik bei diesem oder jenem prä- oder postnatalen Test diagnostiziert. Mit diesem "Fall", der immer und nie einer ist, da keiner für sein Genom verantwortlich gemacht werden kann, sind die Mauern der Psychiatrie eingestürzt, soweit dieser "Fall" nie einer ist, aber zu einem werden kann; gleichzeitig stehen diese Mauern noch, soweit dieser "Fall" immer irgendeiner ist, der aber davon geheilt werden kann.
Wenn also die Biologische Psychiatrie auf ihrem Weltkongress 2001 internationale Standards der Heilung verkündet, vertritt sie beides, die Restauration und die Auflösung. Beides spricht aus ihrem Namen, der die Institution und ihre ordnungserhaltende Funktion ebenso wie das Gegenteil benennt: das "Biologische" weist auf das Molekularbiologische der "psychiatrischen Genetik" hin, deren funktionserhaltende Ordnung mittels Desinstitutionalisierung expandiert. Für die Lebensverwaltung und -behandlung des "Falls resultiert daraus, dass die Biologische Psychiatrie einerseits noch an das vertikale Register einer staatstragenden Institution gebunden ist, andererseits gibt sie diese Bindung zugunsten einer 'Weltgesellschaft' auf, der das Genom zugrundeliegt, dessen Entschlüsselung inmitten des unter- und aufgehenden Jahrtausends 1999/2000 vom Weissen Haus aus verkündet wird . Es folgt der erste Weltkongress der Neurowissenschaften "Brain 2000": er annonciert das Gehirn als Organisationsmodell dieser 'Weltgesellschaft'; ebenso tritt 2000 der sechste Weltkongress der psychiatrischen Genetik zusammen, der zur Genkartierung aufruft, während der siebte Weltkongress der Biologischen Psychiatrie diese 'Weltgesellschaft' durch ihre "Behandlungsgrundsätze der Geisteskrankheit" fundiert: im Jahr Eins des 21. Jahrhunderts, das der Hirnforschung insgesamt 'gewidmet' ist.
© Gerburg Treusch-Dieter