Das Anti-Psychiatrie-Programm

Vor den Neuwahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 10.5.1981 wurde die Irrenoffensive - als von der Psychiatrie direkt betroffene Gruppe - von der Alternativen Liste angesprochen, bei der Neuformulierung des Wahlprogramms mitzuarbeiten.
Gegen den Widerstand einzelner Mediziner und Mitglieder der Berliner Gesellschaft für "Soziale" Psychiatrie haben wir uns mit unseren Vorstellungen zur ABSCHAFFUNG der Psychiatrie durchgesetzt. Wir haben dieses Programm gemeinsam mit den Leuten aus der Bürgerinitiative "Festes Haus" und dem Beschwerdezentrum Psychiatrie formuliert. Die Alternative Liste hat es - bisher ohne große Diskussion - in ihr Programm aufgenommen.

Wir stellen es hier einer großen Öffentlichkeit vor, da wir denken, daß bisher keine Partei oder sonstige politische Gruppierung etwas Vergleichbares im Programm fordert. Wir würden uns über schriftliche KONSTRUKTIVE Kritik freuen; wer mit den Arbeitsplätzen der Beschäftigten argumentiert und deshalb die Beibehaltung der Psychiatrie fordert, sollte bedenken, ob er sich etwa für den Erhalt des Arbeitsplatzes eines Henkers stark machen würde, wenn er die Abschaffung der Todesstrafe fordert.

Wir wünschen uns darüber hinaus, daß sich alle Parteien und Menschen von unseren Vorschlägen "befruchten" lassen. Auf das Gedankengut werden keinerlei Besitzansprüche angemeldet.

Anti-Psychiatrie
Zur Achtung und Wahrung unserer Persönlichkeiten

Unser Menschenbild ist kein festes. Wir sehen den Menschen als ein soziales Wesen mit unendlichen Fähigkeiten, einer Vielfältigkeit von Stimmungen, Gefühlen, Wünschen und Werthaltungen, die sich durch die Anzahl der Menschen im Allgemeinen und seine individuelle Entwicklung ergibt. Jedes Individuum ist eine Persönlichkeit. Jede Persönlichkeit ist dadurch bestimmt, daß sie nie mit einer anderen vergleichbar ist.

Dementsprechend vielfältig sind die Reaktionen des Menschen auf seine Umwelt. Jedes Handeln ist die natürliche Antwort, die logische Konsequenz des Individuums in seiner Situation auf dem Hintergrund seiner individuellen Geschichte. Die zahlreichen Unterschiede zwischen dem einzelnen Menschen und seiner sozialen Umwelt führen zu ebenso vielen Möglichkeiten sich in dieser sozialen Umgebung zu helfen.

Jeder Versuch, eine Norm für menschliches Verhalten vorzuschreiben, hat die Vergewaltigung des Menschen in seinem Wesen zur Folge, die Zerstörung der Individualität. In der heutigen Psychiatrie wollen die Psychiater und ihre weiteren "Fachkräfte" - wie Sozialarbeiter und Psychologen - im Auftrage der Gruppen, die ein Interesse am normierten Funktionieren des Menschen haben, seine Vielfältigkeit bis hin zu seiner Sterblichkeit mit aller Macht ignorieren und ausschalten. Sie suchen nach unserer Berechenbarkeit, unserer Verwertbarkeit und damit nach unserer Unfehlbarkeit, weil sie Angst vor ihrem eigenen Wesen haben: Sie werden auch sterben, sie können auch mal mit ihrer Situation nicht mehr fertig werden, sie können auch mal nicht mehr brauchbar sein. Mit aller Macht und Gewalt (Drogen, Anschnallen, Elektroschocks…) versuchen sie, die Menschen zu verändern, bei deren Anblick sie ihre Angst vor ihrer eigenen Unberechenbarkeit nicht ertragen können. Genauso unerträglich ist die Erkenntnis ihres eigenen Schmalspur-Lebens. Diesen ihren Konflikt lösen sie auf Kosten derer, die anders sind als sie - um sich zu helfen. Das Handeln der Psychiater ist hier individueller Versuch, ihre Lebensproblematik zu bewältigen. Dafür werden sie auch noch bezahlt.

Die deutsche Psychiatrie ist ein Ableger der naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Psychiater behandeln im gesellschaftlichen Zusammenleben entstandene Persönlichkeitsprobleme als eine auszumerzende Krankheit. Diese falsche Auffassung wurde von den Psychiatern zur Ausdehnung und Sicherung ihrer Macht, zur Vertuschung ihrer diagnostischen und therapeutischen Unfähigkeit mit Bluff und diletantischem pseudo-wissenschaftlichen Kauderwelsch gezüchtet. Aus dem Rahmen fallende Verhaltensweisen wie z.B. das Gefühl der Ausweglosigkeit, Ausstieg aus der "normalen" Wirklichkeit - Einstieg in andere Erlebniswelten, Lebensängste, werden als Krankheiten bezeichnet. Diese sollen teils durch mittelalterlich mechanische Foltermittel, teils durch "medizinische Therapien" zum Verschwinden gebracht werden:

Gerade der die Berliner Forschungs- und Versuchs-irrenanstalt der FU leitende Psychiater, gleichzeitig Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, spricht offen aus, wie die psychiatrische "Wissenschaft" weiterentwickelt werden soll. Mit der Frage, ob nicht "jede mögliche chemische Beeinflussung psychischer Funktionen auf ihre eventuelle soziale Brauchbarkeit hin untersucht werden" soll, forscht dieser Psychiater unterstützt von Politikern und Pharmakonzernen nach "Heilmitteln" gegen "Erschöpfungszustände bei überarbeiteten Managern oder berufstätigen Müttern, Schulmüdigkeit, Konzentrationsstörungen, aggressive Zustände bei Strafgefangenen, schizoide oder zyklothyme Persönlichkeitsstrukturen, Empfindlichkeit gegen Geräusche…"

Es muß endlich Schluß gemacht werden, daß hilfesuchende Menschen von gewissenlosen Pharmaproduzenten und weißbemäntelten Psychiatern als Versuchskaninchen mißbraucht werden! Alle Medikamente, alle Therapien, alle psychiatrischen Maßnahmen wie Elektroschocks müssen zuerst an den Psychiatern langfristig erforscht und erprobt werden. Wir lehnen die Psychiatrie ab: Wir setzen uns statt dessen dafür ein, daß alle Menschen das Recht haben, aber sich selbst zu verfügen und so zu leben, wie sie es wollen - ob "normal" oder "ver-rückt" -, ohne unterdrückt und getäuscht zu werden - auch nicht im Namen der Medizin.

Forderungen nach Alternativen zur Psychiatrie
Die Ver-rückten - auch diskriminierend "psychisch Kranke" genannt - sind Menschen, die geschädigt sind durch Kleinfamilie, autoritätsgeprägte und sexualfeindliche Erziehung, Schule, Berufsausbildung, Militär, Ehe, menschenfeindliche Arbeitsplatzsituation, Wohnbedingungen und Umwelt. Dadurch sind sie anpassungsunfähig bzw. anpassungsunwillig in der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Sie sind in einen Zustand geraten, aus dem die meisten ohne Hilfe von anderen nicht mehr herausfinden können. Familie, Verwandte, Freunde und Nachbarn sind oft Mit-verursacher der Ver-rücktheit und daher in ihren Hilfsmöglichkeiten eingeschränkt.

Die herkömmliche Psychiatrie bietet "Hilfe" an, die in Wirklichkeit an den Betroffenen vorbeigeht und ihnen nicht nur nichts nutzt, sondern im Gegenteil schadet. Das Fehlen von Bezugspersonen, Wärme und Verständnis, Geduld und Toleranz, materiellen Hilfsmitteln, Perspektiven, menschlichen und natürlichen Lebensbedingungen soll verdeckt werden durch medizinische Eingriffe wie pharmakologisches Totstellen, Gehirnwäsche, Elektroschocks usw. Dieses verhindert die positive Veränderung in Richtung Selbstverwirklichung, Identitätsfindung; vor allem die individuelle und gemeinsame Hilfe zur Selbsthilfe.

Wer schon einmal im Irrenhaus war, weiß, wie schwierig es ist, wieder herauszukommen und im gesellschaftlichen Leben mit dem Schandmal "Geisteskrankheit" Fuß zu fassen. Die Behandlungsmethoden in der Psychiatrie vertiefen das Alleingelassensein und das Gefühl der Alleinschuld. Die "Patienten" werden in ihrer Persönlichkeit negativiert: sie lehnen sich selbst in ihrer ver-rückten Identität ab und werden programmiert auf ein zwanghaft-normales Verhalten, das von vornherein zum Scheitern und zur Rückkehr in die "Drehtürpsychiatrie" führen muß. Aus der psychiatrischen Mißhandlung Entlassene sind entmündigt, unsicher, fertig, kaputt, zerstört, willenlos, Zombis (umherwandelnde Leichen). Aber für sie ist der Leidensweg noch nicht zu Ende: Die Psychiater nutzen den entmündigten Zustand der Entlassenen aus, indem sie ihnen Angst vor einem erneuten Aufenthalt in der Anstalt machen und sie zwingen, die "Medikamente" weiterhin einzunehmen bzw. sich jede Woche eine Langzeitspritze ambulant verpassen zu lassen.

Wir verurteilen die Pharmakabehandlung als einen großen, legalen, staatlich-medizinisch-privatwirtschaftlichen Milliarden-Drogendeal. Dieser führt zu nichts anderem, als daß wehrlose Menschen körperlich und seelisch zerstört und abhängig gemacht werden und das System aufrechterhalten wird, das dieses Leiden produziert.

Die Ruhigstellung der Ver-rückten bildet allerdings nur die Spitze des Eisberges: Millionen Menschen müssen sich täglich mit legalen Drogen wie Tabletten und Alkohol volldröhnen, um ihre Lebenssituation ertragen zu können. Da Psychopharmaka chemische Giftstoffe sind, haben sie furchtbare körperliche Auswirkungen: Impotenz, Frigidität, Ausbleiben der Menstruation, Haarausfall, Haarverfärbung, Hauterkrankungen, Fettleibigkeit und Fettsucht, unkontrollierter Speichelfluß, starke Sehstörungen, totale Konzentrationsunfähigkeit, extreme körperliche Verkrampfungen und Verspannungen, sehr starke Zitteranfälle, zwanghaftes Muskelzucken, sexuelle Lustlosigkeit, dauernder Trancezustand, Sitzunruhe, Lähmung des Verdauungsapparates, Zerstörung der inneren Organe wie Herz, Leber, Niere, Magen usw.

Die vorhandenen Ängste können durch die chemische Zwangsjacke nicht mehr nach außen vermittelt und verarbeitet werden, bleiben aber gegenwärtig. Durch die körperlichen Wirkstoffe der Psychopharmaka werden auch Gehirnfunktionen beeinflußt: "Dir ist alles egal, Du Dir selbst, Deine Freunde, Dein Interesse an der Umwelt, Du fühlst Dich tot, dumpf und öde, leer, hohl, ohne Regungen, nutzlos störend, überflüssig. Trotz all dieser Entfremdung von Dir selbst, bleibt Dein Bewußtsein für die beschriebene beschissene Situation."

In dieser Foltersituation ist kein Mensch fähig, irgendwelche - auch gute Therapieangebote - aufzunehmen. Für sie bleiben Stumpfsinn, Hoffnungslosigkeit und Resignation. Dazu kommen die totale Interesselosigkeit, das Unverständnis und die Arroganz der "Halbgötter in Weiß", die immer noch - vergeblich - nach körperlichen Ursachen psychischen Leidens forschen und dennoch nach dieser Wahnvorstellung behandeln. Damit versuchen sie lediglich, sich selbst und die zwanghaft-normalen Mitbürger zu stabilisieren.

Aus dieser Realität heraus sind wir für die Abschaffung des Psychiaterberufes und der "psychiatrischen Ausbildung". Statt dessen treten wir ein für die unbürokratische, bezahlte, gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Betroffenen und Personen, die Eigenschaften wie Wärme und Verständnis, Geduld und Toleranz besitzen.

Die ein- und mehrmalige Zwangseinweisung, Zwangsunterbringung, Zwangstherapie und die Ausbeutung durch die sogenannte Arbeitstherapie sind zu verbieten. Die Gewährung der Einsicht in sämtliche Anstaltsunterlagen einschließlich der sogenannten "Krankenblätter" sind gesetzlich zu verankern. Die doppelte Anstaltsaktenführung ist zu untersagen. Die Entmündigung- und der rechtlose Status der Betroffenen ist aufzuheben; ihnen ist volle Rehabilitation zu gewähren. Den Entlassenen müssen finanzielle Entschädigung und Starthilfe ohne Rechenschaftspflicht, Aktenführung und Schnüffelei gewährt werden. Sie dürfen bei Neu- und Wiedereinstellungen nicht diskriminiert werden.

Der Zwang, die persönliche Leidensgeschichte allen möglichen ,,Arbeitgebern" offenbaren zu müssen, muß gesetzlich abgeschafft werden. Im gesamten sozialen und medizinischen Bereich müssen alle - Betroffene und Beteiligte - generelles Aussage- und Zeugnisverweigerungsrecht erhalten. Arbeitskollektive ehemaliger Psychiatrie-Insassen, Wohn- und Kommunikationsräume sind vom Senat und den Bezirksämtern finanziell großzügig und unbürokratisch zu unterstützen, anstatt in neue, an Konzentrationslager erinnernde Psychiatrielager (z.B. Festes Haus in der KBON) hunderte Millionen Mark zu verpulvern. Alle psychosozialen Einrichtungen müssen auf dezentraler Selbstverwaltungsbasis mit vollem Selbst- bzw. Mitbestimmungsrecht der Betroffenen organisiert werden. Die Geschlechtertrennung ist in allen Einrichtungen aufzuheben. In Psychiatriebauten - sei es Ausbau-, Neubau oder Erweiterung der Bausubstanz - darf kein Pfennig mehr investiert werden. Wir weisen angesichts der von den etablierten Parteien CDU, SPD, FDP geplanten ambulanten Zwangstherapien auf die Kurzsichtigkeit der Forderung der DGSP hin, den ambulanten psychiatrischen Bereich auszuweiten.

Mit der geforderten Öffnung der Irrenhäuser werden die Psychiater automatisch auf die gesamte Bevölkerung losgelassen. Diese Begleiterscheinung ist unerwünscht, sie muß verhindert werden. Die Psychiater, die eine teure medizinisch-neurologische Ausbildung genossen haben, müssen Arbeitsplätze erhalten, an denen sie kein Unheil mehr anrichten können, wie z.B. die Erforschung neurologischer Strahlenschäden durch atomare Umweltverseuchung. Das Personal in den Anstalten, das bereit ist, unter den vorgenannten Bedingungen Dienst am Hilfesuchenden zu leisten, wird in den selbstverwalteten Einrichtungen übernommen.

Das Hilfsangebot muß sich nach den Wünschen und Bedürfnissen der Hilfesuchenden richten, wobei die Art der Hilfeleistung der Vielfältigkeit der Bedürfnisse entsprechen muß. Das Ausmaß der Hilfeleistung darf nicht an finanzielle Gesichtspunkte gekoppelt sein. Sie muß Zwang, Unterdrückung, Kontrolle und Registrierung ausschließen. Eine stationäre Hilfestellung und ihre Dauer hat sich nach dem Wunsch der Hilfesuchenden zu richten. Jegliche Zusammenarbeit mit den Institutionen der öffentlichen Gewalt ist zu verbieten. Bei dieser ambulanten Versorgung ist bereits im Ansatz zu verhindern, daß die psychiatrische Unterdrückung und Mystifizierung modernisiert, technisiert, sozialpsychiatrisiert, gemeindenahpsychiatrisiert - also mit neuen Kleidern durchs Fenster wieder hereinkommt, um mit der selben menschenverachtenden Fratze ihre von den bürgerlichen Parteien geforderte Rolle perfektioniert weiterzuerfüllen.

Die Irrenanstalten werden sofort aufgelöst, die Menschen freigelassen. Diejenigen, die hospitalisiert sind und die Anstalten nicht mehr verlassen wollen, werden in gemütlichen Räumen wie Gäste liebevoll gepflegt. Die Berliner Irrenanstalten Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Landesnervenklinik Spandau, Klinik Havelhöhe. DRK-Klinik Phönix, alle Kinder- und Jugendpsychiatrien, Neuropsychiatrische Klinik Waldhaus, FU-Klapsmühlen Eschenallee und Platanenallee usw. werden zu öffentlichen Kommunikationszentren gemacht. Aus den Anstaltsgärten werden öffentliche Parks gemacht. Die sozialpsychiatrischen (Schnüffel-)Dienste werden aufgelöst, denn die soziale Kontrolle, die durch Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter ausgeübt wird, ist ein weiterer Schritt zum totalen Überwachungsstaat.

Die ALTERNATIVE LISTE betont noch einmal, daß sie jegliche Form psychiatrischen Handelns als gegen die Interessen der Betroffenen gerichtet ansieht. Wir lassen uns nicht durch Schönfärberei und blumiges Wortgeklingel täuschen. Mit den Betroffenen wehren wir uns gegen eine reformistische Perfektionierung der psychiatrischen Unterdrückung:
Die einzige Alternative ist für uns die vollständige Abschaffung der kompletten Psychiatrie!

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