die hoffnung nicht verlieren

Überlegungen zur gesellschaftlichen Perspektive

Im historischen Zeitalter einer Gesellschaft, in dem ihr kultureller Naturbezug fast völlig verlorengegangen ist, sind auch die Verrückten vom Verlust der Natur betroffen. Die instrumentelle Vernunft der modernen Wissenschaft reduziet Natur auf ein reines Objekt von Verfügbarkeit, vergessend das die menschliche Gesellschaft in der Natur die Basis ihrer Existenz besitzt. Teleologisch läuft die verabsolutierte Verfügungsrationalität über Natur auf eine Selbstverwirklichung im Selbstzweck Technik hinaus, der das selbstzerstörerische Schicksal der Gattung Mensch zu besiegeln droht.

Nicht nur die ungeheuerlichen Potentiale atomarer, chemischer und biologischer Waffen, von denen unser Planet Erde übersät ist und die manipulativen Eingriffe der Gentechnologie, vor denen bald kein lebendiges Wesen mehr geschützt ist, verdeutlichen den Selbstzweck Technik, sondern auch schon die soziale Medientechnologien und eine technisch-eskalierende Gerätemedizin bewirken technologisch-präformiertes Verhalten der Menschen in Bewußtsein und Praxis.

Technik, einst Mittel menschlicher Selbsterhaltung hinsichtlich der Natur, steuert seit dem 17. Jahrhundert tendenziell auf eine Dimension als Selbstzweck zu, die Technik als Mittel menschlicher Selbsterhaltung immer weniger rational erscheinen läßt.

Im 20. Jahrhundert ist seit Auschwitz und Hiroschima technologischer Fortschritt und moderne Barbarei so weitgehend ineinander verflochten, daß die Analyse von moderner Barbarei sich nicht in massenpsychologischen, politischen und ökonomischen Phänomenen erschöpfen darf, sondern der verhal-tenspräformierenden Entartung der modernen Technik selbst zuwenden muß.

Zweifelsohne darf dabei nicht vergessen werden, daß ökonomisch eine Marktwirtschaft, die zum Diktat von Monopolen und multi-nationalen Konzernen geworden ist, hinsichtlich der technologischen Entartung sich beförderlich auswirkt.

Der ökonomische Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital verlängert spätkapitalistisch sich zu dem von Technik und Natur, d.h. der ökonomische Klassenkonflikt wird

um die ökologische Überlebensperspektive erweitert.

Mit der erfreulichen derzeitigen Auflösung dogmatisch-verhärteter Staatsbürokratien in den Ländern des "real-existierenden Sozialismus" ist bedauerlicherweise jene vorkritische politische Haltung gegenüber Demokratie und Marktwirtschaft wieder eingekehrt, die technologisch-ökonomische Substanz der Gesellschaft nicht mehr mit bürgerlichdemokratischer Form unideologisch zusammenzudenken vermag.

Eine Trennung von Substanz und Form ist auch in der technologisch-eskalierenden Gerätemedizin anzutreten. So wird dort der lebendige Naturorganismus, der in seinen Störungen sozialen geographischen und kosmischen Einflüssen ausgesetzt ist, wie noch der antike Arzt Hippokrates es wußte, durch die Gerätemedizin auf das Menschenbild einer Maschine reduziert, deren Defekte es zu reparieren gilt. Aufgegeben wird mit dieser Reduktion des Menschen, die dem mechanistisch-technologischen Charakter der Behandlung entspricht, eine ganzheitliche Einstellung zu lebendigen Naturorganismus und Psyche.

Drastisch wird die medizinische Mechanisierung des Menschen, wo die moderne Medizin sich vom körperlichen Organismus der menschlichen Psyche zuwendet, wie dies in der Psychiatrie der Fall ist. Im Gegenzug zum antiken Arzt Hippokrates, der noch Umweltfaktoren gerade bei körperlichen Erkrankungen heranzog, wird in der modernen psychiatrischen Medizin die Psyche ihres individuell-sozialen Wesens beraubt und zu einem Spielball chemischer Substanzen gemacht.

Die Lebensvitalität des Ver-rückten bricht sich mechanisch unter dem Einfluß moderner Chemie in quälende "Nebenwirkungen" und unabsehbare Langzeitschäden von Psyche und Körper.

Die medizinischen Chemomechaniker der Psyche, die die Versklavung an ihre eigene Lehrmeinung mit der persönlichen Neigung zu subtilen Sadismus zu einer beruflichen Karriere ausgestalten, sind der indirektgeförderte Garant mächtiger chemischer Konzerne, sich menschlichen Absatzviehs zur Verwertung ihrer Chemie zu bedienen. Die Bequemlichkeit der medizinischen Chemomechaniker, jeder Formaldiagnose die entsprechende chemische Substanz zuzuordnen, macht halt vor den Schwierigkeit en, die menschliche Krisen im Umfeld einer spätkapitalistischen Industriegesellschaft annehmen können.

Verstehensanalytisches Vorgehen praktiziert eine kritisch-zu-verstehende Psychoanalyse, die sich jedoch vorhalten lassen muß, daß die Kindheit, - bei all ihrer Bedeutung einer triebkonstitutiven Basis —, meist zu den glücklicheren Zeiten gegenüber dem Erwachsenendasein zu zählen ist, d.h. für psychische Krisen nicht in dem von ihr angenommenen Maß zum Tragen kommt. Wie stark existenzieller Konkurrenzdruck, wirtschaftliche Not, die verstellte politische Perspektive einer spätkapitalistischen Industriegesellschaft und der Naturverlust einer im Kern nihilistischen Kulturin psychische Krisen von Menschen ragen, dürfte meist in psychoanalytischen Therapien unterschätzt werden.

Die Sprachlosigkeit, die zwischen substan-ziellen gesellschaftlichen Zusammenhängen und dem Bewußtsein ihrer ideologischen Oberflächenbewältigung zwangsläufig historisch besteht, dürfte für den Einbruch unbewußter Dynamiken in die menschliche Psyche vermutlich einen weitaus größeren Quell wie versprengte Kindheitstraumata ausmachen.

Die vielschichtigen Metaphoriken, die persönliche Krisen von sogenannten Ver-rück-ten kennzeichnen, bedürfen zu ihrer Entzifferung und Enträtselung auch weniger des klassischen Psychoanalytikers als vielmehr eines sensibel-reflektierenden Ästheten, der gesellschaftspolitisch wegen der auftretenden Konflikte denken können muß.

So kehrt individuell-erfahrener gesellschaftlicher Naturverlust oftmals in der Rebellion eines unbewußten Einbruchs in die menschliche Psyche wieder, bevor er sich aus der assoziativen Metaphorik in verständliche Sprachfähigkeit als Unbehagen und Kritik zu artikulieren vermag.

Insofern Einbrüche des Unbewußten in die menschliche Psyche, - die meist mit Angst oder als Regression erlebt werden -, Stabilität und Individualität des Menschen einschränken, wäre gerade für Selbsthilfegruppen von Psychiatriebetroffenen zu überlegen, wie man assoziative Metaphoriken mit und ohne "wahnhafter" Überlagerung in Sinngehalt entziffert und in ihrer Dynamik begreift, um dem in der persönlichen Krise Lebenden zu einer baldigen Sprach- und Handlungsfähigkeitzurückzuverhelfen.Auch hier heißt assoziative Metaphoriken entziffern, die Gesellschaft im Schnittpunkt der Individualität lesen zu können, wozu man sich die "Passivität" eines sensibel-reflektierenden Ästheten angewöhnen muß.

Jedoch ist die erfolgreiche Transformation von unbewußten Einbrüchen in verständige Sprach- und Handlungsfähigkeit zunächst nur eine Stabilisierung von Subjekt und Individuum, aber noch keine Veränderung von Gesellschaft entsprechend den verpufften Intensionen der einstigen unbewußten Rebellion.

Angesichts des Überhanges von verselb-ständigter Objektivität in der heutigen Gesellschaft müssen Ziele der Gesellschaftsveränderung sich zunächst praktisch mit Wenigem bescheiden. Vorrangig bleibt eine ökologische Überlebensstrategie mit praktischer Technologie- und Ökonomiekritik, eine Entideologisierung von Demokratie und Marktwirtschaft, die Entwicklung von naturkulturellen Lebens- und Gesellschaftsformen, als auch im Besonderen die Perspektive einer historischen Überwindung der Psychiatrie gepaart mit dem Kampf gegen die Machteinflüsse pharmazeutischer Konzerne.

Auch wenn der Planet Erde noch immer im Zeichen triumphalen Unheils strahlt, sollten Verrückte ihre konkreten Utopien entwikkeln und pflegen, um genügend Kraft für einen langwierigen gesellschaftlichen Kampf zu besitzen.

M.E.

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