Irren-Offensive Nr. 5
FLUCHT IN DIE HER(Z)BERGE
Dieses dreiviertel Jahr war das bisher schwärzeste Kapitel meines Lebens. Aber habe ich mich nicht selbst so weit gebracht? Es ist schwierig, auch jetzt nach zwei Jahren noch, mir alles zu erklären. Darum möchte ich diese Geschichte so aufschreiben, wie ich sie erlebte. Anfang 1988 wurde ich mit meinem Studium in Rostock fertig. Danach begann ich in einem Obstbetrieb meines Heimatkreises. Doch weil ich keine Wohnung in Aussicht hatte und dort recht einsam war,setzte ich durch, daß ich schon nach ein paar Monaten kündigen konnte und zu meinem Freund nach Berlin zog. Damit begann das Drama, denn nun war ich arbeitslos (und das gab's j'a zu DDR Zeiten offiziell gar nicht). Ich bewarb mich überall, bekam so an die 60 Absagen, meist mit der Begründung: ich sei eine Frau (also gebärfähig) und noch dazu nicht in der Partei. Auf die Dauer war das sehr zermürbend für mich. Ich hatte auch vorher schon öfter tiefe Krisen durchlebt, aber was jetzt begann, konnte ich nicht mehr mit dem Verstand abblocken.
Im Verlaufe der Monate steigerte ich mich in eine Hyperaktivität hinein. Möglichst jeden Abend Kino, Theater, Literaturklub es war ein richtiger Kulturschock, in den ich mich versetzte. Eigentlich war ich die ganze Zeit auf der Suche nach der Sucht Lebenssucht. Im November fuhr ich übers Wochenende nach Halle, um einen ehemaligen Freund nochmal wiederzutreffen. Am Abend bei einem Konzert passierte es dann : ich habe mich wahnsinnig in Arnim verliebt, den ich schon vorher kannte. Ab da gab es kein Halten mehr für mich, ich verlor vollends den Boden unter den Füßen. Auch Frank, mit dem ich zusammen wohnte, konnte mir nicht mehr helfen. Ich war unerreichbar für ihn, vielmehr bekämpfte ich ihn nun wie einen Feind. Dazu kam noch, daß ich zu der Zeit schwanger war. Das erfuhr ich aber erst im Dezember, und da war ich bereits in der letzten Woche des dritten Monats. Diese Schwangerschaft sollte auch, laut Psychologen, der Auslöser meiner schizophrenen Psychose gewesen sein.
Amim begleitete mich zum Frauenarzt, und als ich das kleine Wesen auf dem Uttraschallbild sah, entschloß ich mich, nicht abtreiben zu lassen. Weil ich psychisch schon ganz zerrüttet war, schickte mich mein Hausarzt zu einer Psychologin. Der erzählte ich altes, womit sie aber nicht klar kam. Ich erzählte ihr zu konfus. Darum gab sie mir zwecks "Abklärung"einen Termin bei der Neurologin in Friedrichshain. Die gab mir nur zwei Tips: lassen Sie sich das Kind wegmachen und gehen Sie in eine Nervenklinik. Ich war völlig erschrocken. Nein, das Kind war mein Kind, ich hatte mich dafür entschieden, ich an keinem Spielzeugladen mehr vorbei, kaufte Luftballons, kleine Puppen, Kinderbücher. Klaute billige Dinge in Läden, beobachtete die Leute um mich herum, als lebten sie in einer völlig anderen Welt. Und so war es ja auch. Immer mehr versuchte ich mich zu artikulieren. Ich schrieb Gedichte, ging zur Markusgemeinde, in die Umwelfbibliothek, machte bei einer Ökosendung von DT 64 mit (wo meine kritischen Sätze einfach rausgeschnitten wurden) und erhob mein Wort in öffentlichen Diskussionsrunden. Das führte dazu, daß ich mich von der Stasi verfolgt fühlte. Wie ein gehetztes Wild auch sonst. Frank wollte mich aus der Wohnung werfen, weil er es nicht mehr ertrug.
Ich ging zum Gericht deswegen. Eigentlich wollte ich nur bei Arnim, meiner Liebe, sein. Doch er wohnte noch bei seinen Eltern. Und ich überrannte ihn mit meiner Liebe, so daß auch er sich in die Ecke gedrängt fühlte. Zuhause bei meinen Eltern fand ich auch keine Ruhe mehr. Wohin sollte ich noch? Außerdem wurde alles immer schlimmer. Seit Monaten Schlafstörungen bis hin zu Schlaflosigkeit, abwechselnd euphorische und depressive Zustände. Nach Sylvester kam ich mit 40° Fieber zurück, ohne etwas zu bemerken. Freunde verstanden den Sinn meiner wirren Reden nicht mehr. Ich zog mit Rucksack umher und konnte ihn von einer Minute zur nächsten nicht mehr tragen. Ohne Halt fiel ich in ein tiefes schwarzes Loch, nichts konnte mich mehr aufhalten. So packte ich in der Nacht vom 26. zum 27. Januar '89 meine Sachen und machte mich auf den Weg zur Charite, um mich in eine Nervenklinik einweisen zu lassen. Ich konnte die Flucht nicht länger ertragen, auch mein Kind nicht mehr schützen.
Es dauerte, bis ich den Nachtarzt dort überzeugt hatte. Halb eins morgens kam ich in Herzberge an. Alles fiel von mir ab, alles war mir egal. Nur liegen, an nichts mehr denken und sich um nichts mehr kümmern müssen. Weil ich schwanger war bekam ich zunächst nur Faustan. Aber ich legte die Medikamente oft nur unter die Zunge, um sie wieder unbemerkt auszuspucken. Ich lag im Aufnahmesaal mit ungefähr zwanzig Betten. Schon nach ein paar Tagen fingen furchtbare Krampte am ganzen Körper an, was ich vorher nicht kannte. Und die Ärzte hatten mich in ihrer Gewalt, obwohl ich freiwillig dort war. Gleich am Wochenende kam Frank, redete mit den Ärzten und wollte mich wieder mitnehmen. Ich sollte jedoch noch zur Beobachtung dableiben. Aus dem Wochende wurden Wochen, aus den WOchen Monate. Das einzige Hindernis, mich "richtig" zu behandeln, war das Kind. Also redeten die Ärzte auf mich ein, es doch noch wegmachen zu lassen. Das ginge zu jeder Zeit, außerdem werde es nicht gesund zur Welt kommen, weil ich psychisch krank sei und auch die Medikamente ihr übriges tun (die mir jedoch als harmlos für das Kind verabreicht wurden).
Irgendwann unterschrieb ich und wurde ins Krankenhaus Friedrichshain überwiesen. Dort war ich mit noch einer Frau im Zimmer, Balkontür zu ebener Erde, Sonne. Ich hing fast die ganze Zeit am Wehentropf, bekam Spritzen, um die Wehen einzuleiten. Ich war bereits am Anfang des fünften Monats. Es wurde sozusagen eine schwere Geburt. Als mein Bruder mich besuchte, platzte meine Fruchtblase - ich stand da, völlig hilflos. Nachdem das Kind weg war, produzierten meine Brüste Milch, die Drüsen verhärteten sich. Nächte- und ta gelang drückten sie mir die Brüste ab und packten Eisbeutel darauf. Ich zitterte unter der Bettdecke und erfror fast. Sofort nach der ganzen Prozedur kam ich zurück nach Herzberge, wo die Medikamente umgestellt wurden. Das habe ich angeblich nicht vertragen. Es war ein totaler Abfall bei mir. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen gegen die brutale Behandlung, bekam viermal täglich Spritzen, wurde festgeschnallt.
Anfangs, als ich noch die Kraft hatte, versuchte ich mich von den Fesseln zu befreien. Die ganze Nacht brachte ich zu damit, rollte mit dem Bett am Fuß auf den Flur hinaus. Zu Ostern war ich soweit runter, daß ich weder gehen noch sprechen konnte. Der Tod klopfte schon ans Tor, aber ich hatte keine Angst mehr. Anfang Mai wurde ich in ein kleines vergittertes Extrazimmer verlegt, weiter Spritzen und Anschnallen. Drei Kanülen hatte ich drin, Zwangsernährung, Urinbeutel, nichts ging mehr. Ich schrie, schrie nach Arnim. Der aber kam nur ganz am Anfang einmal, beim zweiten Mal ließen sie ihn nicht mal mehr zu mir. Noch zweimal rief er an, kein Brief, kein Lebenszeichen von ihm: Für einen freund / für ein bis zwei leben / lohnt es sich / für einen freund / zu gehen / ins teuer / für keinen Freund / mehr 7.12.88) Und warum wurde ich festgeschnallt? Wenn Frank mich besuchte, verlangte er, daß sie mich losmachen. Die Schwestern begründeten es damit, ich sei zu laut, renne rum, wiegele Mitpatienten auf. Na, soll man sie doch mal derart aller Menschlichkeit berauben, mal sehen, ob sie nicht auch zum Vieh werden.
Einmal schrie ich, sie sollten mich losmachen, ich müsse scheißen. Da niemand kam, mußte ich aufs Laken kacken, das ich mir mühsam unterm Hintern vorzog und auf den Boden fallen ließ. Wortlos machte die Schwester dann alles weg. Ende Mai war ich wieder "ansprechbar". Von den Psychopharmaka verschwammen mir die Zeilen vor den Augen, doch mühsam las ich großbuchstabige Bücher. Meine Handschrift wurde immer zittriger und unleserlicher. Noch dazu bekam ich totale Verstopfung, extrem trockene Haut, dauernd Durst und Haarausfall. Ich sammelte und raffte alles, was ich fand: Zeitungen, Bastelmaterial, das gab ich Frank mit nach Hause. Im Fernsehen und in Zeitschriften glaubte ich mich bzw. Freunde zu erkennen. Und ich spazierte oft zu meinem Froschteich. Einmal kam ich zurückzu an der Pathologie vorbei, ging durch die Garagentür rein und sah eine tote Oma liegen. Die erste Tote, die ich sah in meinem Leben. Das erzählte ich dummerweise, doch niemand glaubte mir, daß ich eine Tote gesehen habe. Den Psychologen bestätigte das nur meinen verwirrten Zustand. Und was war aus meiner Liebe geworden?
Ich wartete auf Arnim, der nicht kam. Wer kam war Frank, den ich nicht mehr wollte. In jeden Freund, der mich besuchte, verliebte ich mich. Ich war völlig ausgehungert, aber auch ängstlich geworden. Frank brauchte lange, bis ich ihn wieder annahm. Er kämpfte um jede Stunde Ausgang, die ich bekommen konnte. Die Ärzte und Schwestern verunglimpften ihn, bis hin zur Behauptung, er verteile an Patienten Medikamente. Bald begann die Therapie für mich: Musikhören und machen, Singen, Malen, Gartenarbeit, Tonformen, Holzgestaltung, Gruppengespräche, Ausflüge. Aber die Therapiegruppen wurden danach zusammengestellt, wie lange man drin war. Materielle Krankheiten wurden materiell behandelt. Psychoanalyse wurde als bürgerlich verfemt verurteilt. Seele & Geist wurden nicht berücksichtigt. Wir sollten in der Klinik nur wieder funktionsfähig gemacht werden. Als ob man jemandem die Beine abhackt und ihn danach zwingen will, wieder normal zu laufen.
Ich hatte nur Angst, Angst vor der Therapie, dem Rumhängen dazwischen, Angst, Kuchen backen zu müssen, Angst vor den wöchentlichen Sitzungen, wo wir uns derart erniedrigen mußten, um Ausgänge oder Tagespatient zu erbitten sowie Verringerung der Medikation, welche die Ärzte bestimmten. Gegen Ende meiner Zeit in Herzberge bekam ich immer noch drei Psychopharmaka: Haioperidol, Parkopan und Protacin. Inzwischen kamen Freunde raus, die viel später eingeliefert wurden als ich. Im Juli sollte ich sogar noch verlegt werden nach Schwerin, um nahe bei meinen Eltern zu sein (die sich aber erst zwei Monate nach meiner Einlieferung blicken ließen). Das wäre eine Abschiebung. Zum Glück wurde daraus nichts, weil ich nicht wollte. Im Juli kam ich auch erstmals ein Wochende lang raus. Zwei Wochen im August bekam ich Urlaub (mußte natürlich brav meine Medikamente nehmen Frank wurde dafür mitverantwortlich gemacht). Ab 28.8.89 war ich Tagespatient.
Einen Tag später ging ich zum Arbeitsamt. Ich bekam ja während der Zeit keinen Pfennig Unterstützung im Gegensatz zu anderen, die Arbeit hatten. Aber es sollte noch bis zum 27.10.89 dauern, ehe ich entlassen wurde, auf den Tag genau ein dreiviertel Jahr also. Kurz vor der Entlassung machte meine Psychologin, Frau Dr. Knispei, einen Intelligenztest mit mir und stellte nur fest: Ich würde jetzt nicht mal mehr das Abitur schaffen wegen zu geringer Merkfähigkeit. Und wenn ich mir eine Arbeit suche, dann möglichst eine, wo ich nicht viel denken muß, am besten Büroarbeit... Die Oberschwester sagte mir zum Abschied: "In einem viertel Jahr spätestens sind sie wieder hier, Frau Pohl". So gestärkt trat ich hinaus in meine wiedergewonnene Freiheit, die keine mehr war. Die Maueröffnung, die Euphorie, das alles betraf mich nicht, ich war scheintot. Noch mehr als ein halbes Jahr nach der Entlassung bekam ich drei später fünfwöchentlich eine Spritze. Bis ich die dortige Psychologin deswegen ansprach. Sie meinte, es sei meine Entscheidung.
So entschied ich mich: ging nicht mehr Spritzen abholen, auch nicht mehr zur Psychologin. Was sollte ich auch dort? Sie haben mir nicht geholfen, im Gegenteil. Sie haben mich abgestorben und ich habe es mit mir machen Tassen. Ich war nun völlig ruhiggestellt. Bei Freunden redete ich den ganzen ABend kein Wort mehr, blieb nur den ganzen Tag im Bett und wartete auf Frank. Wollte nirgendwo allein hingehen, mutete mich niemandem mehr zu so. Schrieb kaum mal eine Karte, kein Gedicht mehr. Es war alles hoffnungslos für mich. Das Leben war farblos & freudlos nun. Nicht mal Langeweile, gar nichts mehr. Die Arbeit, die mir das Arbeitsamt vermittelte, war nichts als Frust. Ich war zwar als Gärtnerin für die Grünanlagen eines Filter- und Vergaserbetriebes angestellt, doch es gab nichts zu tun im Winter.
So mußte ich reinemachen: Treppen, Umkleideräume, Essenssaal. Hab nur rumgegammelt und gepennt, wann und wo immer ich konnte. Dabei wurde ich natürlich dauernd erwischt, dafür verhöhnt und gehaßt. Nach drei qualvollen Monaten habe ich dann gekündigt. Nur durch Zufall stieß mich ein Freund auf diesen Bioladen, in dem ich bis heute arbeite. Dort stellte ich mich vor und wurde sofort angenommen. Auch sonst begann ich ganz allmählich mir selbst unbewußt wieder aufzuleben. Interessierte mich mehr für das, was um mich herum geschah.
Der Durchbruch aber kam erst im Mai diesen Jahres. Wie eine Explosion. Ich habe mich verliebt. Dabei dachte ich, das würde mir nie mehr passieren. Ich begann wieder zu schreiben und mich zu erheben aus meiner endlosen Lethargie. Seitdem versuche ich, mein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, mir ein Selbstbewußtsein aufzubauen, Verantwortung zu erlernen. Das ist alles neu für mich. Aber ich bin zuversichtlich. Wenn ich die Hölle überlebt habe, warum sollte ich, wieder auf Erden, resignieren ? Ich bin gestärkt aus diesem Kampf hervorgegangen und stehe wieder an meinem Anfang.
Nina Pohl 22.10.91