Irren-Offensive Nr. 5

Nr. 81 Juli1992

SPD und CDU gegen gemeindenahe Psychiatrie

Schöneberger Stichel
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Psychiatrische Versorgung

Am 25.3.92 legten die BezirksvertreterInnen von SPD und CDU ihre Karten auf den Tisch: Ihnen ist es recht, daß weiterhin SchönebergerInnen in Havelhöhe (Berlin-Spandau) versorgt werden, wenn sie wegen psychischer Erkrankungen stationär behandelt werden müssen.

Seit 15 Jahren werden in den Kommunen der Bundesrepublik Anstrengungen unternommen, die Versorgung aller psychisch Kranken direkt im Bezirk zu ermöglichen. Schöneberg hinkt dieser Entwicklung hinterher, obwohl die Psychosoziale AG seit vielen Jahren auf diesen Mißstand hinweist.

Im hiesigen Auguste-Viktoria-Krankenhaus gibt es zwar eine psychiatrische Abteilung, aber dort werden leider nicht Menschen mit allen Krankheiten betreut, sonder nur die leichten Fälle. Die Fraktion der Grünen/AL in Schöneberg brachte aus diesem Grunde folgenden Antrag ein:

Psychiatrische Voll Versorgung in Schöneberg für Schöneberger Patienten/PatientInnen Die Bezirksverordnetenversammlung wolle beschließen:
Die Bezirksverordnetenversammlung ersucht das Bezirksamt, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür einzusetzen, daß auch im Bezirk Schöneberg eine psychiatrische Vollversorgung angeböten wird.
Begründung:
Seit vielen Jahren besteht die Empfehlung der "Psychiatrie-Enquete" der "Gemeindenahen Psychiatrie". Die Experten/Expertinnen fordern eine Psychiatrische Vollversorgung für Gemeinden/ Kommunen/Bezirke - Schöneberg erfüllt mit seiner Bevölkerungszahl bei weitem die Grundlagen für die Einrichtung einer psychiatrischen Vollversorgung.

Dies ist jedoch vor allem dadurch nicht möglich, weil die zwangsweise einwiesenen Patienten/PatientInnen nicht in einer hierfür vorgeschriebenen "geschlossenen Abteilung" in Schöneberg behandele werden können; sie werden nach wie vor nach Havelhöhe gebracht.

Die Beratungs- und Betreuungsangebote im Bezirk müssen vermehrt koordiniert werden, um allen Personen die dieser Hilfe bedürfen, ein adäquates Betreuungsangebot machen zu können.

Im "Protokoll über die 24. Sitzung des Ausschusses für Gesundheitswesen" vom 25. März heißt es dann unter Punkt 5 der Tagesordnung zu diesem Antrag lapidar: "... Bei der abschließenden Abstimmung findet der Antrag keine Mehrheit."

Die Gesundheitssiadträtin dazu: "Bei den vielen Verhandlungen zur Finanzierung einer entsprechenden Versorgung im Auguste-Viktoria-Krankenhaus wurde mir von den Senats- und Krankenkassenvertretern gesagt, in anderen Bezirken hätten sie auch deswegen mehr finanziert, weil die BVVs sich eindeutig politisch fordernd gezeigt hätten. Ich war völlig verblüfft, daß ein so wichtiges Thema derart abgehandelt und parteipolitischen Überlegungen geopfert wurde.

Meine jahrelangen Bemühungen werde ich wahrscheinlich fortsetzen können, da ich davon ausgehe, daß dies ein Ausrutscher ist, den CDU und SPD inzwischen selbst bereuen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ernsthaft wollen, daß weiter die schwerkranken Menschen vor den Toren der Stadt und völlig isoliert untergebracht werden."


Mit der Bitte um Antwort

Offener Brief der Irrenoffensive an die Grünen/AL vom 14.7.92

Wir möchten wissen, wieso die Grünen/AL in Schöneberg am 25. März bei der 24. Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung eine psychiatrische Vollversorgung inklusive geschlossener Abteilung gefordert haben, obwohl schon in der 1991 unters Volk gebrachten Information "Psychiatrie oder Menschenrechte" die Grausamkeiten, die die Psychiatrie an den Menschen verübt, beschrieben werden. Einerseits vertreten Sie die Forderung nach einem Weglaumaus für Psychiatrieflüchtlinge, andererseits vertreten Sie die Forderung nach einer geschlossenen Abteilung in Schöneberg.

Wir fordern von Ihnen die Erklärung dieses Widerspruchs!
P.S.: Es fehlt nur noch, daß Sie der obersten Gesundheitsbehörde vorschlagen, mit Sonnenkollektoren betriebene Elektroschockgerate aus Umweltschutzgründen anzuwenden.

Allerliebst
Ihre Irrenoffensive


Nr. 84 Oktober 1992

Schöneberger Stichel
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Psychiatrische Versorgung

In Stichel Nr. 81 berichteten wir über einen Antrag, den die Grünen/AL im bezirklichen Gesundheitsausschuß eingebracht und der dort mit den Stimmen der CDU und SPD abgelehnt wurde. Daß ausgerechnet die Grünen/AL eine "geschlossene Abteilung" forderten, kritisierte die Irren-Offensive e.V. in einem offenen Brief und forderte eine öffentliche Antwort. Beides dokumentieren wir im folgenden.


Oktober 1992

„Geschlossene Abteilung" und Weglaufhaus!

Eine Antwort von Gesundheitsstadträtin Eva Luber (Grüne/AL)

Sehr geehrte Damen und Herren von der Irrenoffensive!

Ich möchte Ihnen zunächst sagen, daß Sie Recht haben, wenn Sie die Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie angreifen und hinterfragen. Ich bin froh, daß es Gruppen wie die Ihre gibt, die nimmermüde darauf hinweisen und darauf hinarbeiten, daß eine Einweisung ins Krankenhaus nicht der letzte Stein der Weisen sein kann in Sachen Psychiatrie - und das meine ich wirklich nicht ironisch, sondern ernst!

Unsere Distanz zu geschlossenen Abteilungen sollte im angesprochenen Artikel im Stichel durch die Gänsefüßchen beschrieben werden ("geschlossene Abteilung") Ich will Ihnen aber gerne genauer erklären, warum die Forderung nach einer Erweiterung des Auguste-Viktoria-Krankenhauses um eine "geschlossene Abteilung" dennoch für mich nicht im Widerspruch sieht zu der Forderung nach einem Weglaufhaus.

Die Schöneberger Arbeitsgruppe zur Psychiarieplanung hatte bereits im November 1989 fast einstimmig beschlossen, eine größere Vielfalt der Unterbringungsmöglichkeiten im Auguste Viktoria-Krankenhaus (AVK) anzubieten Es wurde beklagt. daß schwer erkrankte Menschen in einer Situation, in der sie sich oder andere bedrohen, bisher ins Krankenhaus Havelhöhe gebracht werden müssen. (Das geschieht übrigens ungefähr hundert Male im Jahr.) Gerade diese Menschen brauchen einen Platz in Kieznähe, damit Freunde und Verwandte sie schnell und oft besuchen können. Oft reißen die Kontakte ab, wenn die Betroffenen wochenlang vor den Toren der Stadt untergebracht werden.

Aus diesem Grunde stellten die meisten der über vierzig Anwesenden in der Arbeitsgruppe zur Psychiatrieplanung ihre prinzipiellen Bedenken gegen die geschlossenen Abteilungen zuruck und forderten ausdrücklich, daß sich das AVK auch derjenigen SchönebergerInnen annehmen müsse, die zwangsweise untergebracht werden In der Arbeitsgruppe sind Professionelle, Angehörige und Betroffene vertreten. Es gab nur eine Gegensumme - von der Irrenoffensive, eine Gegensumme, die ich schätze, da sie uns alle daran mahnt, daß die Psychiatrieplanung für Schöneberg weil mehr beinhalten muß als nur die Verlagerung von Betroffenen von einem Krankenhaus ins nächste.

Seit jenem November 1989 gab es viele Diskussionen über die psychiatrische Vollversorgung in Schöneberg. Unser Ziel ist es, Konzepte zu entwickeln, wie die bislang Zwangseingewiesenen behandelt werden können ohne eingesperrt zu sein Sicherheitsglas in der Station kann nicht die einzige Lösung sein. Der Gesundheitsausschuß hat andere Krankenhäuser besucht, um nach besseren Lösungen zu suchen.

Wir sind auch schon ein gutes Stückchen weitergekommen" Ich gehe davon aus, daß die Krankenkassen nach den anstehenden Pflegesatzverhandlungen für 1993 die Kosten für eine Psychiatrische Vollversorgung in Schöneberg übernehmen werden. Ich kann aus den genannten Gründen keinen Zynismus dann sehen, ein Weglaufhaus zu fordern und gleichzeitig die Vollversorgung im Bezirk sicherzustellen ist es nicht eher Zynismus, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, daß so viele Menschen nach Havelhöhe gekarrt werden.

Im ubrigen gilt, was ich anfangs sagte Recht hamse, die Leute von der Irrenoffensive Und es ist schade, daß es noch kein Weglaufhaus gibt!


Der eingebrachte Antrag Psychiatrische Vollversorgung in Schöneberg für Schöneberger Patienten/PatientInnen Die Bezirksverordnetenversammlung wolle beschließen: Die Bezirksverordnetenversammlung ersucht das Bezirksamt, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür einzusetzen, daß auch im Bezirk Schöneberg eine psychiatrische Vollversorgung angeboten wird.

Begründung:
Seit vielen Jahren besteht die Empfehlung der "Psychiatrie-Enquete" der "Gemeindenahen Psychiatrie". Die Experten/ExpertInnen fordern eine Psychiatrische Vollversorgung für Gemeinden/ Kommunen/Bezirke - Schöneberg erfüllt mit seiner Bevölkerungszahl bei weitem die Grundlagen für die Einrichtung einer psychiatrischen Vollversorgung.

Dies ist jedoch vor allem dadurch nicht möglich, weil die zwangsweise einwiesenen Patienten/PatientInnen nicht in einer hierfür vorgeschriebenen "geschlossenen Abteilung" in Schöneberg behandelt werden können; sie werden nach wie vor nach Havelhöhe gebracht.

Die Beratungs- und Betreuungs angebote im Bezirk müssen vermehrt koordiniert werden, um allen Personen, die dieser Hilfe be dürfen, ein adäquates Betreu ungsangebot machen zu können.


AL-Fraktion Schöneberg

Berlin, den 02-VIII-1992

Irrenoffensive e.V.
Pallasstr. 12
1000 Berlin 30

Alternative Liste
für Demokratie und Umweltschutz
Fraktion in der Bezirksverordneten
Versammlung Schöneberg von Berlin
Im Rathaus Schöneberg. Raum 2115 u. 2043
1000 Berlin 62
Tel. 030 / 783 37 31

Betr. Psychiatrische Versorgung in Schöneberg/
Ihr Schreiben an die AL Steglitz

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

neben den Ihnen mit Sicherheit bekannten Aussagen und Zielvorstellungen der AL bezüglich der Problematik der psychiatrischen Behandlung/ Versorgung in Berlin und Schöneberg, weiche auch immer die Prioritiätensetzung einer gemeindenahen, offenen Psychiatrie beinhalten, bestellt auch die Notwendigkeit, sich mit den zur Zeit in dieser Stadt existierenden Verhältnissen auseinanderzusetzen.

Zur Verwirklichung einer sinnvollen und grundlegenden Veränderung der psychiatrischen Versorgung hin zu einer gemeindenahen, offenen Psychiatrie sind die qualifizierte Betreuung Betroffener und die Bereitstellung von geeigneten Wohnmoglichkeiten unseres Erachtens einige der wesentlichsten Voraussetzungen, die allerdings in Realitas, wie Ihnen bekannt sein durfte, harte Verhandlungen unter immer widri ger werdenden Umstanden bedürfen.

Unter diesen Aspekten und aufgrund der Erfahrungen innerhalb der vergangenen drei Jahre sind die gesundheitspolitisch engagierten Personen in der AL-Fraktion Schöneberg allerdings der Meinung, daß es, bei der alIgemeinpolitisch in dieser Stadt zu erwartenden Null- Veränderung der Psychiatrieversorgung bzw. der reell zu befürchtenden, da schon geplanten, Bettenaufstockungen zur stationären Versorgung psychisch kranker Menschen, besser ist, die Betroffenen, wenn denn schon die Versorgung in geschlossenen Abteilungen polititsch nicht zu vermeiden ist, gemeindenahe, d.h. in diesem Falle in einer geschlossenen Abteilung im Schöneberger AVK statt, wie bis dato, in Havelhöhe, unterzubringen.

Ferner bleibt festzustellen, daß die Alternative Liste eine unabhängige politische Partei ist, die die unterschiedlichsten Interessen verschiedenster Bevölkerungsgruppen und Einzelpersonen zu vertreten hat und dies mit ihrer Politik auch tut und daß zukünftige Diskussionen mit VertreterInnen Ihres Vereins nicht auf dem Niveau Ihrer unter P.S. stehenden Aussage stattfinden sollten bzw. werden.

Mit freundlichen Grüßen

B. Schwietzer/A. Debrand Passard
Gesundheitspolitische Sprecherinnen der AL-Fraktion Schöneberg

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