Irren-Offensive Nr. 5
ÜBER DIE REALTÄT - EIN VERSUCH
"Man muß sich auch darüber klarwerden, daß viele gedanklich geschaffenen Systeme, besonders solche der Wissenschaft, dem gesunden Menschenverstand widerstreben. Die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag sagte einmal, alles verstehen beginne damit, daß wir die Welt nicht so akzeptieren, wie sie zu sein scheint. Vieles in der Wissenschaft ist in der Tat insofern sinnlos, als es nicht mit unseren natürlichen Sinnen zu erfassen ist. Auf schlagende Weise wurde dies offenbar, als Instrumente wie das Fernrohr und das Mikroskop enthüllten, daß das Universum vieles jenseits unserer naiven Realitätsvorstellung birgt." (nach Alan C. Kay)
Über Realität zu schreiben ist sicher ein abstraktes, philosophisches aber auch grundsätzlich naturwissenschaftliches Unterfangen. Worauf ich hinaus will ergibt sich aber schon aus dem deutschen Wort dafür - Wirklichkeit, also etwas, was mit wirken zu tun hat. Damit wird aber der oftmals als absolut verstandene Begriff der Realität relativiert und abhängig gemacht von wirkenden Subjekten und von ihrer Kommunikation. Die Frage nach der wirklichen Wirklichkeit, dem Sein an sich, entgleitet dem Fragen hinter einer Nebelwand von Wirklichkeit konstituierenden Subjekten.
Dies zu akzeptieren fällt meist schwer, scheint es doch unserer alltäglichen normalen Erfahrung zu widersprechen. Denn rot ist doch rot und grün grün, das ist doch natürlicher Fakt für jeden von uns. Gerade daran läßt sich aber auch die Waghert unserer "Realitätssicherheit" demonstrieren, denn zum Glück gibt es nur ca. 1% Farbenblinde, die gerade diese beiden Farben nur als Grauwerte sehen. Und wenn das umgekehrt wäre? 99% Farbenblinde und 1% rot- grün-Sichtige?
Sicher gäbe es gar nicht die Begriffe rot und grün, sondern eben nur grau. Und wie würden diese 1% rot- grün- Sichtigen behandelt ? Eben als Spinner, die bei denselben Grautönen riesige Unterschiede sähen, die doch gar nicht existieren. An diesem Beispiel wird offensichtlich, wie sehr unsere Wahrnehmung von Verständigung, von Begriffsbestätigung durch andere Menschen abhängig ist, wie im Laufe der Zeit Weltbilder entstanden und verfallen sind und da soll unser jetziges endgültig das letze und richtige sein? Woher nehmen "Normale" die Sicherheit daß, wenn Verrückte Stimmen hören, die sie nicht hören können, die Verrückten nicht nur einen bis jetzt unerklärlichen Zugang zu einer heute noch unmeßbaren Geisterwelt haben, der ihnen fehlt? Dabei existiert diese Geisterwelt genauso, wie rot und grün bei einer oben angenommenen 99% farbenblinden Menschheit, who knows ?
Hinweise für dieses erkenntnistheoretische Verständnis (es wird als "Konstruktivismus" bezeichnet) hat Maturana in dem Buch "Der Baum der Erkenntnis" dargelegt. Seine neurologischen Untersuchungen zeigen z.B., daß unsere Nerven nicht zwischen passivem Nachrichten Empfangen und Weiterleiten und aktivem Hervorbringen unterscheiden können. So können wir Hitze spüren und erzeugen; das legt den Schluß nahe, weil wir auch Hitze hervorbringen können, wir Hitze spüren; die Unterscheidung in Wahrnehmung und Hervorbringung ist eine weltanschauliche Konvention, abstrakt und sicherlich praktisch, aber psychologisch unbelegt.
Also ist die Realität immer auch eine selber gemachte! Sie steht im Austausch mit der von anderen gemachten. Wenn dabei keine Verständigung gefunden wird kann es mitunter bis zu blutigen Konflikten eskalieren, wie jetzt zwischen Serben und Kroaten. Oder wenn die Verständigung abreißt, wird in Psychiatrie isoliert und zurechtgebogen, wer die Mehrheitsrealität verlassen hat. Das aktzeptieren von Verrücktheit würde sicher das praktische Mehrheitsverständigungskorsett relativieren, das ist das Ängstigende an Verrücktheit. Aber wir können guten Mutes sein, eine Gesellschaft, die sich immer mehr Luxus leisten kann, die immer mehr aus dem Reich der entbehrungsreichen Notwendigkeiten ins Reich der Freizeit, des Spiels, des Spaßes und der Freizügigkeit kommt, bietet die großartige Perspektive, daß verrücktes Leben auch das Ängstigende verliert. Und das ist das Ende von Zwangsbehandlung und Unterdrückung und die Voraussetzung gesellschaftlicher Anerkennung.
ReneTalbot