Unter lauter „Irren", „Wahnsinnigen" und „Verrückten", die ihr Anderssein offensiv vertreten, fühle ich mich manchmal als Hochstapler. Zwar bin ich „psychiatrieerfahren", aber meine Klinikaufenthalte liefen jedesmal unter der Diagnose „Depression", und damit zähle ich doch eigentlich gar nicht - wie unter Fürsten und Grafen ein einfacher „von" nicht mitzählt, mag er sich auch noch so sehr um Vornehmheit bemühen.
Zum erstenmal leibhaftig begegnet bin ich dem Wahnsinn in einer Geschlossenen Abteilung, in die es mich Anfang des 30. Lebensjahrzehnt verschlug. Bis dahin hatte ich im Grunde nicht geglaubt, daß es so etwas wirklich gab - und das in der heutigen Zeit. Zwar wucherten in meiner Umgebung die Neurosen, aber das gehört zu einem geistig ambitionierten Mittelstandsschicksal ja dazu und war kein Grund, sich etwas einzubilden. Als Kind stellte ich mir einen Geisteskranken als jemanden vor, der sich einbildet, Napoleon zu sein. Die Anstalten dachte ich mir voll von solchen Kaiserkopien, die sich von den Wärtern mit „Sire" anreden lassen. Später schien mir das dann doch unwahrscheinlich, und ich begann, den Irrsinn für eine Art Märchen zu halten wie die von Feen und Hexen, von denen man sich in der warmen Stube gern schaurige Geschichten erzählt, aber froh ist, ihnen nicht in Wirklichkeit zu begegnen.
Mit der Klinik wurde das anders. Dort gab es Verrücktheit in Hülle und Fülle - wenn auch stark abgebremst durch die Neuroleptika. Aber was ich sah, reichte, um bei mir einen eigenartigen Neid aufkommen zu lassen. Da gab es Leute, die sich lauthals über die Zustände auf der Station beklagten, Pflegepersonal angriffen und andere Patienten niederbrüllten - was alles ich mich nicht in „gesundem" Zustand getraut hätte, geschweige denn in der Depression, die mich ängstlicher, gedrückter und passiver denn je machte. Ich fand es ungerecht, daß ich in meinem verschlossenen Wesen noch verstärkt wurde, während andere in befreiender Weise außer sich geraten konnten und in ihren Visionen einen Kontakt zum „ganz Anderen" herstellten, um den ich mich in „nüchternem" Zustand jahrelang vergeblich bemüht hatte.
Fest steht, daß die Depression (oder was unter diesem medizinischen Begriff heute allgemein verstanden wird) weder Lustgewinn noch Unterhaltungswert mitbringt. Wenn andere, in- und außerhalb der Klinik, erzählen, wie sie eines Nachts sämtliche Kleidungsstücke und den Fernseher hinterher auf die Straße geworfen haben, so ist das sehr amüsant, und wenn es zu einer Zwangseinweisung geführt hat, kann man sich immer noch darüber ärgern, wie einem der Spaß verdorben wurde. Depressiv sein bringt hingegen wenig Spaß, weder für einen selbst noch für den Zuschauer. Tage- und wochenlang auf dem Bett zu liegen oder in einer Ecke zu hocken und gegen die Wand zu starren ist natürlich auch eine Art, sich dem „System" zu verweigern, aber doch eine weit weniger spektakuläre und innovative als die zahllosen Verrücktheiten vom grellbunten Aufzug bis zum schrillen Lachen und verwegenen Wortschöpfungen. Ganz zu schweigen von Van Gogh und anderen, deren Genie zu einem untrennbaren Teil aus Wahnsinn besteht, und die vom braven Bürger bereits als Ausnahmemenschen anerkannt werden, früher als „Heilige", heute als „Künstler".
Nichts davon hat der Depressive zu bieten. Er malt nicht, lacht nicht, ist nicht offensiv, nicht kreativ, nicht genial und nicht verrückt, nicht einmal interessant, sondern einfach ein armes Schwein. Und keiner weiß das besser als er selbst. Darum ja sitzt er - während der Irre, dem der Wahn aus den Augen blinkt, sich nur mit Gewalt einer Behandlung zuführen läßt - vor seinen wechselnden Ärzten wie das Kaninchen vor der Schlange, um sein Heil zu erwarten. Solche „Krankheitseinsicht" ist selbst eine Krankheit, die Hypochondrie, die der Depression so verwandt ist.
Hiernach müßte es feststehen, daß mit depressiv Verstimmten für eine „Irrenoffensive" wenig zu gewinnen ist. Sind sie doch eigentlich gar keine „richtigen" Irren und passen weder in das Bild, das die Gesellschaft vom Irrsinn negativ zeichnet, noch in das, was „bewußte Irre" dem entgegenzusetzen versuchen. Mit solchen Kandidaten ist keine Anarchie zu errichten, weder in noch außerhalb der Klinik. Aber auch umgekehrt: Warum sollte ein Depressiver sich bei einer „Antipsychiatrie" engagieren? Etwa, um ungestört (von Ärzten, Medikamenten, Elektroschock) in vollen Zügen depressiv sein zu können?? Um andere auf diesen Weg zu leiten? Um schließlich die ganze Welt zu „infizieren" mit seiner Traurigkeit? Absurd. Das Interesse des (programmatischen) Irren ist ein anderes als das des Depressiven: jener will Freiheit, dieser sucht Sicherheit, oder mit den Worten der Ärzte: Gesundheit.
Warum könnte nun ein Depressiver trotzdem unter die „Irren" sich zählen? Sicher wird er dies tun, wenn er auch manisch ist und beide Seiten der Medaille kennt. Und von daher müßte auch klar werden, wie einseitig verlogen das Bild vom fröhlichen Irren ist, mit dem die Antipsychiatrie immer wieder operiert. Denn die Kehrseite gehört unbedingt dazu und muß beim Selbstverständnis Psychiatrieerfahrener immer mitbedacht werden. Sonst gerät man in eine dümmliche Verharmlosung, die jeden Anspruch auf Ernstgenommenwerden hinfällig macht.
Nicht einmal das Manischsein bereitet immer Vergnügen, viele leiden darunter. Erst recht bedeutet die sogenannte Schizophrenie - wie wir es nennen, spielt hier keine Rolle - mehr und anderes, Zweideutigeres und Dämonischeres als eine gutmütige Spinnerei. Wenn ein Mensch aus allen Bezügen herausgerissen und an die Grenzen gestoßen wird, dann tut das weh, sehr weh, und der Ruf nach Heilung und Heilmitteln ist nicht einfach ideologisch zu verurteilen. Es ist ja nichts anderes als das Rousseausche „Der Mensch ist von Natur aus gut", was die Antipsychiatrie wiederholt in der Variante „Der Irre ist von Natur aus glücklich", und nur die böse Psychiatrie macht sein Sein und Wesen zum Problem. Dabei ist die menschliche Natur selbst zutiefst problematisch, und der Irrsinn, weit entfernt, sie zu lösen, verschärft nur diese Problematik.
In dieser Verschärfung aber liegt seine wahre Bedeutung. Nirgendwo wird so offenbar, daß die immer wieder gewünschte und geforderte Ausgeglichenheit (schon die Griechen hielten das „Maß" für das Wichtigste) eine Illusion ist, die nur für den Preis einer inneren Abtötung zeitweise erkauft werden kann. Für den Irren besorgen das die Neuroleptika, im normalen Leben sind es die immer gleichen Ordnungen und Routinen, die einen am Ausscheren nach oben oder unten hindern. Und diese Ordnungen sind nur teilweise abzulehnen. Gerade das Beispiel des Irren zeigt, welche Gefahr, Lebensgefahr darin liegt, sich den Extremen voll auszuliefern.
Diese Gefahr schafft man nicht aus der Welt, indem man Zwangseinweisungen abschafft (obwohl das durchaus diskutabel ist). Das Problem besteht ja nicht in erster Linie in der Einweisung, sondern in der „Verwandlung", die dazu führte. Solche Verwandlung ist doppeldeutig. Einerseits führt sie zu einer Art Befreiung, indem die „Gehäuse" (Jaspers) auseinanderbrechen und die Frage nach dem „Sinn" dahinter sich auftut - und diese Freiheit findet auch der Depressive, denn sie kann in unermeßlichem Leid ebenso liegen wie einer unbändigen Freude. Anderseits isoliert die Verfremdung den Betroffenen so, daß die Angst über ihn kommt, den Weg nicht mehr zurückzufinden - und diese Angst sitzt auch dem Maniker im höchsten Überschwang noch tief in den Knochen. Irresein, ernstgenommen, kann nicht bedeuten, wie ein Kind fröhlich spielend durch die Welt zu hüpfen und den einen oder anderen Schabernack anzustellen - obwohl es solche Phasen geben mag -, sondern es ist im Guten wie im Schlimmen die existentiell empfundene Absage an jene Strukturen, die unser Gesellschaftssystem zusammenhalten.
Da ist es kein Wundern, wenn Ärzte mit der Spritze kommen und Richer ihr placet dazu geben. Wer läßt sich schon gerne sein Haus zerstören, wenn das, was dafür geboten wird, nicht nur Sonne und Blumenwiesen sind, sondern auch Eis, Schnee und blaugefrorene Finger?
„Depression" ist nur ein psychiatrisches Fachwort. Das Leid dahinter aber ist real, ob wir es nun „Krankheit" nennen oder anders. Leid erfahren und Leiden bringen gehört zu jeder Verrücktheit dazu, wie es (in abgeschwächter Weise) zu jedem Leben gehört. Irresein bietet keinen Ausweg, sondern führt an die Grenze und zerschellt dort, wenn - mit oder ohne Medikamente - nicht der Rückzug angetreten wird. Wer die Manie feiert, muß auch die Depression hinnehmen, das gilt übertragen für jede Existenz. Wer das schaffte, die Extreme zu denken und in ihnen zu leben, ohne unterzugehen, dessen Erfahrung würde auch für „Gesunde" unverzichtbar sein. Wer den Irren hingegen als eine Art Hofnarr auffaßt, den sich eine Wohlstandsgesellschaft ruhig leisten sollte, kann mit Depressionszuständen gar nichts anfangen. Der Hofnarr fährt im goldenen Wagen, weil die Vornehmen seinen Witz zu schätzen wissen. Der Depressive ist nicht witzig und nicht nützlich, folglich gehört er nicht zu den „Irren", mit denen sich Reklame machen läßt. Wer sich auf ihn einläßt, erfährt die ganze, auch schreckliche Wahrheit.