Der Staat als Dealer

    Rezension aus AKTUELL Nr. 17, das Magazin der deutschen Aids-Hilfe
    zur Diskussion des Charakters von bewußtseinsverändernden Substanzen
     

    Ein Kölner Ökonom hat die deutsche Drogenpolitik volkswirtschaftlich kühl analysiert und plädiert für eine kontrollierte Heroinabgabe
     

    Die deutsche Drogenpolitik ist gescheitert.  Die Zahl der Drogentoten hat sich von 1974 bis 1994 verzwölffacht, sie stieg von 139 auf 1624 pro Jahr.  Die Zahl der amtlich registrierten Rauschgiftvergehen hat im selben Zeitraum um das Vierfache zugenommen. 1994 registrierte das Bundeskriminalamt 132 389 Delikte.  Beim Heroin, der am intensivsten verfolgten Droge, lassen sich weitere Belege für das drogenpolitische Versagen anfügen.  Die Zahl der Süchtigen ist mit 100 000 bis 120 000 trotz intensiver Verfolgung konstant geblieben.  Und nur etwa fünf Prozent des vagabundierenden Heroins wird beschlagnahmt - der Stoff bleibt verfügbar.

    Gleichzeitig verursacht die Heroin-Prohibition horrende Kosten. Auf 1,2 Milliarden Mark werden die jährlichen Ausgaben (1992) für die Bekämpfung des illegalen Marktes geschätzt.  Die Bekämpfung der Beschaffungskriminalität der Junkies schlägt noch einmal mit 1,9 Milliarden Mark zu Buche.  Auf 3,2 Milliarden Mark wird der Wert der erbeuteten Diebesware geschätzt.  Macht zusammen 6,3 Milliarden Mark.  Addiert man noch die 6,7 Milliarden Mark Therapiekosten dazu, bleiben unter dem Strich Ausgaben von 13 Milliarden Mark, das sind
    130 000 Mark für jeden Süchtigen - ein sattes Managergehalt.

    Ein großer Teil dieses Geldes könnte mit einer anderen Drogenpolitik eingespart und sinnvoller ausgegeben werden.  Wenn der Staat selbst zum Heroinhändler wird, den Stoff in Eigenregie herstellt und ihn dann kontrolliert an die Süchtigen abgibt, würden volkswirtschaftliche Milliarden-Verluste vermieden.  Die Heroinmafia wäre von heute auf morgen zerschlagen, weil ihrer Kundschaft beraubt.  Zugleich würde die Zahl der Drogentoten dramatisch fallen, weil der verteilte Stoff chemisch rein und damit gut zu dosieren wäre. Technisch ist das ebenfalls kein Problem: Bis zum Opiumabkommen von 1912 hat der "Bayer"-Konzern im Jahr rund eine Tonne des damaligen Arzneimittels Heroin produziert.

    Der Kölner Volkswirt Olaf Gersemann hat dieses provokante wie verblüffende Szenario bis in die Details durchdacht.  Er ist "hundertprozentig sicher", daß dieser neue Weg der Drogenpolitik früher oder später beschnitten werden muß.  Der gegenwärtige "Akt der kollektiven Selbstschädigung" der Volkswirtschaft durch die aufwendige Verfolgungspolitik alter Couleur sei - gerade in Zeiten extrem knapper Kassen - nicht mehr länger aufrecht zu erhalten.  Diese Einsicht, sagt Gersemann, teile er inzwischen auch mit mehreren Polizeipräsidenten, die längst von der Aussichtslosigkeit ihres Tuns überzeugt sind. Gersemanns Szenario ist zunächst ein etwas hölzerner Text.  Keine Frage: Hier schreibt ein Ökonom in der Sprache der Ökonomen.

    Doch je länger man das liest, desto zersetzender wird diese Sprache.  Unbeeindruckt vom moralischen Überbau setzt der Wissenschaftler das ökonomische Seziermesser an, operiert mit harten Kosten-Nutzen-Kalkülen.  Gersemann räumt bei einem hochdramatisch besetzten Thema alle Emotionen radikal beiseite.  Unsere gespeicherten Bilder vom schummrigem Kerzenlicht und der Heroinspritze in der Armbeuge, von Bahnhofsklo und Straßenstrich verschwinden für einen Moment und machen einer gänzlich unaufgeregten Analyse Platz, in der es keine Denkhemmungen gibt.

    Nüchtern werden die Fakten serviert:

  • Der verfolgte Heroin-Schwarzmarkt produziert zwangsläufig immer neue Süchtige, weil viele Junkies wegen der hohen Preise gezwungen sind, durch Dealen ihren Eigenkonsum zu finanzieren.
  • Es gibt keine Drogentote, sondern nur Prohibitionstote.  Heroin selbst ist ein Stoff, der weder die Organe schädigt, noch krebserregend, noch erbgutschädigend ist.  Die Süchtigen sterben nicht am Heroin, sondern an den zerstörerischen Begleitumständen ihrer Sucht.
  • Mehr Verfolgung verursacht höhere Preise. Höhere Preise verursachen mehr Beschaffungskriminalität und mehr Elend.
  • Eine härtere Verfolgung kostet den Staat aber vor allem mehr Geld bei katastrophalem Kosten-Nutzen-Verhältnis.  Weil der Polizeiapparat nicht beliebig vergrößerbar ist, fehlen die Ressourcen bei der Bekämpfung anderer Verbrechen. - Die heroinfreie Gesellschaft ist nur um den Preis eines totalitären Regimes möglich.

    Wie könnte nun eine andere, effizientere Drogenpolitik aussehen?  Gersemann stellt verschiedene Optionen vor vollständige Legalisierung, Teillegalisierung, kontrollierte Abgabe mit "take home system" (die Junkies holen den Stoff an den staatlichen Distributionsstellen und nehmen ihn mit nach Hause) oder mit überwachtem Konsum an der Abgabestation.  Ganz Volkswirtschaftler, stehen dabei immer die Entwicklung des Heroin-Marktes und die Kosten für die Gemeinschaft im Mittelpunkt.

    Eine vollständige Legalisierung von Heroin lehnt Gersemann wegen des Kinder- und Jugendschutzes ab.  Sie würde einen Anstieg der Konsumentenzahl auslösen und hätte damit keine gesellschaftliche Akzeptanz.  Gleichwohl erscheint sie ihm ökonomisch interessant.
    Als beste Alternative erscheint dem Kölner Wissenschaftler sein Modell der kontrollierten Heroin-Abgabe.

    Utopisch ist dieses Modell längst nicht mehr.  Die Schweiz experimentiert seit zwei Jahren mit einem Modellprojekt, bei dem das Heroin an die Fixer verteilt wird.  Die Kosten liegen trotz einer aufwendigen psychosozialen Betreuung und eines sündhaft teuren wissenschaftlichen Begleitprogramms bei 27 375 Mark für jeden Süchtigem.  Von solchen Pro-Kopf-Ausgaben können die Verfolgungspolitiker hierzulande nur träumen.

    Gersemann macht klar, daß die Heroinabgabe nicht zu restriktiv ausfallen darf, sonst entstehe erneut ein Schwarzmarkt und "es ändert sich nichts am Status Quo".  Die Ausgabe des Stoffs müsse so freizügig sein, daß das illegale Verteilungsnetz der Drogenbosse tatsächlich zerschlagen werde. Neukonsumenten sollten die Droge erst nach eingehender Beratung mit Bedenkzeit und gegen Bezahlung bekommen, Süchtige erhalten den Stoff gratis.  Um einen Herointourismus zu verhindern, will Gersemann die Abgabe auf Personen begrenzen, die seit längerer Zeit in Deutschland wohnen.

    Auch um ganz pragmatische Fragen drückt sich der Autor nicht herum.  So schlägt er ein Magnetkartensystem vor, damit die individuelle Abgabemenge überschaubar bleibt.  Die Abgabe erfolge dezentral in Arztpraxen, Apotheken und Räumen der Drogenhilfe.
    Gersemanns Buch ist ein weiterer Beleg für die langsam aufbrechenden Fronten in der deutschen Drogenpolitik.  Auch die ersten Reaktionen darauf zeigen, daß hier vieles in Bewegung ist.  Ausgerechnet das "Handelsblatt", konservatives Zentralorgan der deutschen Wirtschaft, hat das Buch als erstes besprochen und - freundlich gelobt.

    Manfred Kriener


    Olaf Gersemann: Kontrollierte Heroinabgabe.
    Optionen einer künftigen Drogenpolitik; S + W Steuer- und Wirtschaftsverlag Hamburg 1996, 140 S.,  38 Mark
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