Auffällig ist, daß sich der Psychiatrieentwicklungsplan (Pep) seitenweise über Zuständigkeiten und Bezirkszugehörigkeiten ausläßt und andere Themen zu kurz kommen.
1) Regionalisierung
Wir halten darüber hinaus den bezirklichen Ansatz für übertrieben.
Niemand, der in Berlin lebt, orientiert sich stringent in seinen Lebensgewohnheiten
an Bezirksgrenzen. Es ist sicher richtig, Menschen nicht in entlegene Psychiatrien
in Vororten zu verbannen und sie, wenn überhaupt eher in der näheren
Umgebung ihres Wohnortes unterzubringen, jedoch ist es viel zu schematisch,
dies nach Zuständigkeiten und Bezirken auszurichten. Ein Krankenhaus
in einem anderen Bezirk kann z.B. näher am Wohnort gelegen sein, bzw.
eher dem Wunsch der/des Betroffenen entsprechen. Die meisten Leute haben auch
ihre Freunde gar nicht unbedingt im Bezirk.
Gerade die schematische, bezirkliche Zuordnung macht uns Angst, daß
die Gewalt und Kontrolle der Anstalten in den Wohnbereich verlegt wird. Alle
Psychiatriegeschädigten sollten sich aussuchen können, von wem sie
Hilfe in Anspruch nehmen wollen und Entfernungen innerhalb der Stadt spielen
dabei eine untergeordnete Rolle. So heißt es dieses oder jenes Hilfsangebot
wird nicht finanziert, weil „nicht zuständig" da in einem anderen Bezirk.
Gerade überregionale, thematisch orientierte Angebote sind demgegenüber
unserer Meinung nach von Bedeutung. Oder soll etwa an psychiatriesierten Menschen
eine ansonsten gescheiterte Politisierungspolitik der Bezirke vollstreckt
werden?
2) Krankheitsbegriff
Was heißt überhaupt psychisch krank, welche Personengruppe
ist damit gemeint? Sollten Sie eine Personengruppe meinen, bei der es sich
nicht um objektive, somatische Befunde handelt, stellen wir den Krankheitsbegriff
in Frage.
3) Tagesstrukturierende Angebote und Nachtkliniken sind geeignet, die Aufenthaltsdauer in konventionellen psychiatrischen Kliniken zu verkürzen, sie beugen u.a. der Hospitalisierung vor. Daneben ermöglichen sie Betroffenen größere Freiräume. Es gibt Situationen in denen sie hilfreich sind: Sie können helfen eine akute Antriebsschwäche zu überwinden. Sie können helfen bei sozialer Vereinsamung und Isolation, die z.T. selbst gewählt wurden. Deshalb sollten diese Angebote auf keinen Fall von „Bettenstreichungen" betroffen sein. Die tatsächliche Bettenzahl in der Psychiatrie ist zu verringern, im Gegensatz hierzu sollten tagesstrukturierende Angebote, Tageskliniken und Nachtkliniken ausgebaut werden. Das ist preiswert und sinnvoll. Wer ein tagesstrukturierendes Angebot oder einen Nachtklinikaufenthalt als hilfreich und effektiv für sich empfindet, sollte diese Möglichkeit auch wahrnehmen können.
Manche Betroffene ziehen einen Werkstattaufenthalt der Tagesklinik vor, weil sie in der Arbeit mehr Sinn sehen als beim Basteln und Malen. Auch Werkstätten dienen der Tagesstrukturierung oder sollen Betroffene auf das Arbeitsleben vorbereiten. Es kann nicht um Werkstätten „um jeden Preis" gehen. Werkstätten sollten ihre Arbeit und Dienstleistungen tatsächlich verkaufen, denn sinnlose Beschäftigung ist nicht geeignet das Selbstbewußtsein zu stärken. Stupide und langweilige Arbeiten sollten auf das unbedingt Notwendige begrenzt werden (z.B. bei Arbeit auf dem Markt), sollten also im Rahmen der „Arbeit" notwendig sein, auf keinen Fall sollten sie ohne Sinn und Zweck nur auf eine „Beschäftigung" abzielen.
Nachtkliniken ermöglichen Menschen in schweren psychischen Krisen tagsüber
ein relativ „normales" Leben zu führen. Im Ausnahmefall nehmen sie auch
Menschen auf, die noch keine eigene Wohnung haben und sind eine gute Ausgangsbasis
für eine Wohnungssuche.
Gegenüber psychiatrischen Kliniken sind sie auf jeden Fall vorzuziehen,
da der Spielraum größer ist.
Die Schaffung einer Job- und Fortbildungsbörse und die Schaffung eines
oder mehrere Zentren, die umfangreiche und selbstbestimmte Freizeitangebote
anbieten, ist erforderlich und muß auch finanziert werden. Ein solches
Zentrum ist z.B. das Werner-Fuß-Zentrum.
4) Sehr kurz gehalten ist der Punkt
"Enthospitalisierung" (7.2.2.),
obwohl laut Teil1 das gesamte Pep darüber handelt. Auch hier wird sehr
technokratisch verfahren. Es wird gefragt, ob und inwieweit die Anzahl der
Versorgungseinheiten ambulant in der Höhe vorhanden ist, wie Betten gestrichen
werden.
Was liegt dem Enthospitalisierungsgedanken zu Grunde?
Enthospitalisierung ist schon lange unsere Forderung. Seit langem findet
eine Fehlfinanzierung statt. Teure Klinikbetten für mindestens 300.-DM
pro Tag wurden und werden gehalten, wo Menschen zwangsuntergebracht sind,
oder wo Menschen einfach verwahrt werden, weil sie nicht die Mittel und Papiere
haben eine Wohnung zu suchen. Von Taschengeld in Höhe von unter 200.-DM
im Monat kann sich niemand eine Wohnung anmieten. Es bedarf komplizierter
Sozialhilfebewilligungsverfahren, woraufhin der Wohnungsgeber die Wohnung
erst gar nicht vermietet.
Würde die Zwangsunterbringung abgeschafft werden, so würde sich
ein großer Teil der Enthospitalisierung von selber erledigen.
Weiterhin sollten in Psychiatrien und Heimen Untergebrachte den vollen Sozialhilfesatz
erhalten und zusätzlich vorab finanzielle Unterstützung für
die Wohnungssuche. Hierdurch erledigt sich dann ein weiterer Teil der Enthospitalisierung.
(Dies sind keine Summen im Vergleich zu den oben genannten Pflegekosten).
An Stelle dessen wird gefragt, ob die ambulante Versorgung gewährleistet
ist, ohne die finanzielle und persönliche Situation der Einzelnen zu
betrachten. Unter Umständen haben die Betroffenen noch nicht einmal die
Möglichkeit sich zu entscheiden,
a) ob sie überhaupt entlassen werden wollen und
b) falls sie entlassen werden wollen, wo und wie sie im einzelnen wohnen wollen.
Der Enthospitalisierungsentwurf als Unterbringung der Betroffenen in Kleinstheimen
ist sehr fragwürdig in Hinblick auf die finanziellen Aspekte der Betroffenen.
Bei Unterbringung nach SGB und nicht RVO müssen die Betroffenen ihren
Aufenthalt selbst bezahlen und werden u.U. sogar dazu gezwungen, dort zu wohnen.
Ihre gesamten Ersparnisse werden ihnen abgenommen bzw. verrechnet. Der Rest
der Kosten wird zwar vom Sozialamt übernommen, jedoch werden sämtliche
Ein-kommen wieder abgezogen. Wir halten dieses Modell für keine Alternative
zur klinischen Unterbringung.
Vielmehr nehmen wir an, daß dem gesamten Enthospitalisierungskonzept
einzig Sparmaßnahmen und keine konzeptionellen Überlegungen zugrunde
liegen. So wird die menschenunwürdigen Behandlung in den Psychiatrien
in Kleinstheimen nur modifiziert und mit einem anderen finanziellen Konzept
(kostensparend) fortgesetzt. Laut Punkt 7.2. soll im nichtstationären
Bereich von der bisherigen Personalbedarfsermittlung nach Belegungszahlen
abgewichen werden.
5) Auch der Punkt Selbsthilfe wird sehr kurz abgehandelt.
Teil 4 (Regionale Pflichtversorgung) berücksichtigt Selbsthilfe überhaupt
nicht.
Gerade Selbsthilfegruppen können „systemunabhän-
gige Instrumentarien" zur Sicherstellung der Rechte „psychisch Kranker" anbieten.
Es ist unser primäres Anliegen gerade juristische Mittel zu nutzen,
die Rechte von Psychiatriebetroffenen durchzusetzen.
Es wird behauptet, Selbsthilfe wird durch den Senat und die Liga gefördert. Zur Zeit bekommen wir keine Gelder und auch die in Aussicht gestellten Gelder sind viel zu wenig. Sie sind kein Vergleich zu den Personalmitteln, die im Betreuungs- und Versorgungsbereich aufgewendet werden. Bei ausreichender Bewilligung von Personalmitteln könnten wir gerade im Bereich Enthospitalisierung vermehrt tätig werden und Psychiatrieentlassenen bei der Wohnungssuche helfen, unser "tagesstrukturierendes" Angebot erweitern und durch Psychiatriebesuche den Übergang zur Entlassung erleichtern.
Wir sind die einzige aller "ambulanten" Einrichtungen, die Betroffene über
die schädliche Wirkung von Neuroleptika aufklärt und ihnen hilft,
sich kritisch mit der Psychiatrie auseinander zu setzen. Viele müssen
erst mal lernen, daß es sich bei vielen Behandlungsmethoden in der Psychiatrie
schlicht und einfach um Menschenrechtsverletzungen handelt, gegen die sie
sich mit Hilfe von Anwälten oder unserer "Beschwerde-stelle" auch wehren
können.
Wir setzen uns kritisch mit Theorie und Praxis der Psychiatrie auseinander.
Mit Hilfe unserer Bibliothek entwickeln und diskutieren wir unsere Meinung,
veröffentlichen und vertreten sie in politischen Gremien.
6) Kontakt und Beratungsstellen
Unter Funktionsbereichen (7.1) werden Kontakt und Beratungsstellen
überhaupt nicht erwähnt. Gerade diese wären doch ein wichtiger
Punkt der Enthospitalisierung und viel besser, wenn sie unter der Leitung
und Verantwortung von Betroffenen betrieben würden. Wir befürworten
alle offenen Angebote, wo kein Zwang zur Beteiligung ausgeübt wird, ein
Raum für Begegnung geschaffen wird und Beratung stattfindet. Gerade dies
verwirklichen wir auch im Werner-Fuß-Zentrum.