Der Name „Irren-Offensive" läßt aufhorchen. Auch dann, wenn man
die damit verbundene Tradition nicht kennt. Wir stellen uns in diese Tradition,
ohne mit allen Inhalten und Äußerungen einverstanden zu sein. Darum
geht es auch gar nicht. Es geht darum, heute eine Zeitung zu machen, die hält,
was der Name „Irren-Offensive" verspricht.
Der Name enthält bereits eine unmißverständliche Aussage.
Welche? Warum das Wort „irre" aufgreifen, das eindeutig negativ besetzt und
dabei schon etwas veraltet ist, mit dem simple Gemüter bis heute ein
Phänomen bezeichnen, das ihnen fremd und unheimlich ist, und womit durch
Auslachen gebannt werden soll, was sich sonst jeder Deutung und Bedeutung
entzieht?
Der „Irre", vorgestellt halbnackt und brüllend wie ein Affe, hinter Gittern
oder ziellos durch die Straßen „irrend", ist ein Skandalon für
eine vernünftige zivilisierte Welt. Aber ein „skandalon" nannte Paulus
auch die Lehre Christi in den Augen der Griechen, die damals Vernunft und
Zivilisation, ja Humanismus repräsentierten. „Mensch" bedeutet griechisch
„zoon logon echon", Vernunftwesen. Der Heilige erntet da Hohn und Spott genau
wie der Irre - Dostojewski hat sie ja im „Idioten" in eins gesetzt -, weil
seine Uhr anders geht als die der „Welt". Gerade im Ausgestoßensein
liegt für beide die Mission, das Andere sichtbar werden zu lassen, das
die Grenze des Vernünftigen und Wohlanständigen, aber auch das berechnenden
und egoistisch kalkulierenden Denkens sprengt. Der Irre und der Heilige, der
Verbrechen und das Genie spielen das Spiel nicht mit, in dem es darauf ankommt,
möglichst sicher und unbeschadet ans Ziel zu kommen. Bewußt oder
unbewußt richten sie sich zugrunde und übernehmen damit ein Schicksal,
vor dem sie kein Arzt und kein Priester, kein Gefängnis und keine Therapie
bewahren kann.
All das steckt in dem Wort „irre". Es steckt nicht in „Psychotiker", „psychisch
Kranker" oder „Psychiatrie-Erfahrener". Diese Bezeichnungen sind zwar weniger
abwertend, aber dafür sind sie auch verlogen und zeigen nicht die Gewaltsamkeit
und die Zumutung, die das Andere, Fremde, Nicht-Assimilierbare für die
Normalität darstellt. Es gibt ja tatsächlich diesen Unterschied,
der eine Kraft ist, auch wenn empirisch Zwischenformen vorkommen. Man bessert
ja nichts, wenn es heute wohlmeinende oder scheinbar wohlmeinende psychiatrische
Kliniken und psychiatrische Dienst tun, die den „Kranken" so lange „behandeln",
bis er nicht mehr auf- und herausfällt - auch wenn von der Persönlichkeit
kaum noch etwas übrigbleibt. Alte Zeiten sind oft grausamer, aber auch
lebendiger; heute paßt der Schleichgang des stillgestellten Psychiatrie-Patienten
eben besser ins Bild, als das „offensive" Wüten von „Verrückten"
oder gar „Irren".
Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Sicher sind auch wir
für Reformen in der Psychiatrie. Und auch wir verdanken unser teilweises
Funktionieren häufig genug den Ärzten und Medikamenten. Es macht
ja selten Spaß, „Irre" zu sein; viel öfter ist es Leid und Qual.
Auch in uns lebt ein starker Drang nach Anpasssung, nach Normalität,
weil es sich so viel leichter lebt. Aber „Krankheit", psychische wie andere,
ist nicht nur Handicap, nur Unfall oder Schönheitsfehler, der möglichst
spurlos zu „reparieren" ist. Sie haben auch einen Sinn in sich selbst, und
oft einen, der über das „Gesunde", Makellose weit hinausweist. Es gibt
Wahrheiten, und vielleicht sind es gerade die tiefsten und schwersten, die
erst in der Krise, der Kathastrophe, der Krankheit aufscheinen. Nietzsche
bezeichnete den Menschen als „das kranke Tier", demnach wenn man einen Menschen
komplett „heilte", würde man ihn in einen Affen zurückverwandeln.
Bei manch „gesunden" Brustkörben und Kußmündchen aus der Werbung
kommt einem tatsächlich dieser Verdacht.
Das klingt anmaßend - was durchaus beabsichtigt ist. Was die „Irren-Offensive"
nicht will, ist auf die Mitleidsdrüse drücken. Natürlch brauchen
wir alle, Kranke und Gesunde, auch manchmal Mitleid. Aber davon gibt es heute
genug. Wir wollen nicht darauf hinweisen, daß wir „auch Menschen" sind,
oder daß wir „nichts dafür können", daß wir „auch noch
zu etwas nütze" sind, wenn man sich nur genug Mühe gibt, uns „einzugliedern".
All das wäre defensiv, d.h. wegstoßend, nämlich den Verdacht,
tatsächlich ein „Irrer" zu sein. Was wir wollen, ist eine Offensive,
ein Anstoßen und Anstoß erregen mit einer eigenen, „irren" Sicht
der Dinge um uns herum.
Was da herauskommt, kann nur die Praxis zeigen. Aber schon die Idee der „Irren-Offensive"
zeugt von dem Wunsch und Willen, die „Krankheit" nicht als unangenehme Unterbrechung
oder als schmähliches Ende einer bürgerlichen Karriere zu betrachten,
sondern aus ihr selber Sinn und Kraft für ein neues und eigenständiges
Tun zu gewinnen.
Wer sich daran beteiligen möchte, ist willkommen.
A.W.