Wer Wahnsinn kennt und sich ein bißchen für Philosophie interessiert, wird sich einiges von diesem Buch versprechen. „Wahnwelten im Zusammenstoß. Die Psychose als Spiegel der Zeit", 1993 erschienen, enthält Beiträge einer ganzen Reihe von Philosophen, Psychiatern und Psychoanalytikern sowie anderer Kulturwissenschaftler, die auf einer Tagung gleichen Titels 1991 in Berlin vorgetragen wurden.
Der Ansatz macht neugierig. Lange schon hatte man sich gefragt, was wohl die Philosophie, die Vernunft definiert, zu einem Phänomen wie dem Wahnsinn zu sagen hat, der ebenso anti-vernünftig wie zugleich genuin menschlich ist. In einem interdisziplinären Gespräch hat man sich darauf eingelassen, immerhin.
Die Löblichkeit der Frage - dabei bleibt es aber auch schon. Was die Gelehrten - nur graduell unterschiedlich - zu dem Thema produzieren, ist schlichtweg unlesbar, und das nicht nur für den philosophischen Laien. Eine Kostprobe: „Der Traum der Vernunft (im postmodernen Mittagschlaf) tritt in der Vollendung der Selbstreferenz aus dem Spiegelstadium heraus, praktiziert Bewußtseinsperipetie, gehorcht der Wahrnehmung und treibt erneut Ungeheuer hervor." Dieser Satz (aus der Einleitung von Dietmar Kamper) ist nicht zu verstehen, auch wenn man weiß, daß nach Goya „der Schlaf der Vernunft Ungeheuer gebiert". Weiter: „Alles läuft auf eine neue Theorie der Zeit hinaus, die der gemeinsamen Quelle von Vernunft und Wahn nahekommt. Aber ist es noch eine Theorie? Eine im Raumabstand befriedete Schaulust? Die Exzessivität desr Wahnsinns wirft als Problem die Koppelung auf. Wenn das Getriebe der Zeiten durchbrochen ist, wird auch das Denken bruchstückhaft, fraktal (eine nicht fraktale Theorie der Fraktalität wäre ein Unding) - vor allem jenes Denken, das der Zeit und des Anderen unendlich bedürftig ist."
Noch nicht genug? Rudolf Heinz schreibt in seiner „Chaosmose der Komplexität": „Was hat solches mit Wahnsinn zu tun? Fast alles: Pan, der sterbliche Gott, die Prätention des lebendigen Todes, die den Preis des Terrors des Dauertraums zahlt. Dann aber nur handelt es sich um Wahnsinn, wenn sich solches, wie eine Definition derselben, eben nicht mehr sagen ließe: wenn sich die Schere zwischen der abständigen Intellekualität des Dauertraum und diesem, unabständig selbst, unendlich öffnet/schließt." Und so geht es weiter über 250 Seiten von (mehr oder weniger) allen der über zwanzig Autoren. Alle haben sich offenbar nach Kräften bemüht, es dem Wahnsystem in seiner hermetischen Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit gleich zu tun und dazu eine Sprache zu schaffen, die jede Kommunikation ausschließt. Der Versuch, den Sinn solcher Sätze wie der eben zitierten zu erfassen, muß scheitern, weil es ihre einzige Absicht ist, Sinn zu vermeiden und zu verhindern. Hier hat der Wahnsinn wirklich Methode, genauer: er ist die Methode oder versucht, es zu sein. Was wir nicht verstehen, ist nicht etwa „zu hoch", sondern entzieht sich dem Verstehen überhaupt und findet darin sein Genügen. Jeder Satz sagt dasselbe, nämlich nichts. Zu dieser traurigen Kunst hat es die Philosophie unter dem totalen Ideologieverdacht (Nietzsche) schließlich gebracht. Wir sehen eine Anti-Philosophie, die sich selbst mit jedem Worte den Garaus macht.
Der Unterschied zwischen Unsinn und Wahnsinn darf aber nicht übersehen werden. Dieser ist unverständig, jener aber bloß unverständlich. Das heißt, die philosophietypische Sinnhuberei ist nicht aufgegeben, sondern man destruiert Sinn mit dem gleichen Ernst und der gleichen Sturheit, mit der sonst ein Lehrgebäude aufgebaut wurde. Wenn Philosophen verrückt spielen, kommt eben doch nichts anderes heraus als wieder Philosophie - allerdings eine, die sich heute „Poststrukturalismus" nennt oder auch „Dekonstruktion". Ihr Jargon bildet die „gemeinsame Sprache" (Guido Peltzer) (mehr oder weniger) aller Diskussionsteilnehmer und läßt die Beiträge in ihrem übereinstimmenden Null-Resultat auf eins hinauslaufen. Dabei ist die postmoderne Methode ebenso leicht zu erkennen und schulmäßig zu erlernen wie alle wissenschaftlichen „Maschen"; deshalb auch verbreiten sie sich so schnell. Und wie überall, wo dogmatisch operiert wird, ist der Gegenstand im Grunde gleichgültig.
Was man hier dem Wahnsinn nachsagt, das Subversive, Anarchische, das ganze Andere ist keineswegs, wie einem weisgemacht wird, für die Philosophie gefährlich, infragestellend und Unruhe stiftend, sondern funktioniert in dem dekonstruktiven System als Instrument der planmäßigen Zersetzung von traditionellen Texten und Terminologien. Mit genau den gleichen Prädikaten belegt man Eros, Thanatos und andere Bürgerschrecknisse, unter die sich der Wahnsinn brav einzureihen hat. Diese Schwundstufe von Philosophie kennt nur ein Interesse, weiterzuphilosophieren nach dem Ende der Philosophie. Dafür werden alle Diskurse geplündert, nach dem psychoanalytischen nun auch der psychiatrische. Die Verrückten sollen herhalten, um aus dem längst erkalteten Feuer noch einmal einige Erleuchtungsfunken zu schlagen. Natürlich gelingt das nicht, denn Wahnsinn kommt in dem Buch nur als verquastet intellektuelles Getue vor, das die Betroffenen schon als Leser, geschweige denn als Gesprächspartner ausschließt.
Ursprünglich, das muß man um der Gerechtigkeit willen sagen, kommt die „Dekonstruktion" von Heidegger her, der eine „Destruktion" der gesamten abendländischen Geistesgeschichte vorhatte, um unter den Trümmern das von ihm gesuchte „Sein" als Neuanfang eines „anderen Denkens" hervorzugraben. Inzwischen ist das „Sein" als unauffindbar aufgegeben, und nur der radikale Abbau bleibt übrig. Wenn also Heidegger der große Zauberkünstler war, der Kaninchen aus einem Hut zog, der eben noch leer war, so sind die Dekonstruktivisten nichts anderes als Dilettanten, bei denen der Hut nach jedem Kunststück leer bleibt.
Wenn ein Schwarm von Professoren es sich angelegen sein läßt, vom Wahnsinn nicht als Krankheit zu sprechen, sondern als Daseinsmöglichkeit, liegt es nahe, sich freudig bewegt oder gar geschmeichelt zu fühlen. Tun wir das nicht! Vor allem dürfen wir uns nicht benutzen lassen, um das nach Heidegger endgültig zum Betrug gewordene Geschäft der Philosophie noch ein Weilchen weiter zu betreiben. Auch wenn in dem überbordenden Gerede des Sammelbands kein einziger Satz eines Wahnsinnigen vorkommt, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie uns nötig haben und nicht wir sie - weil wir über eine Authentizität verfügen, die ihnen bei dem ständigen Verdächtigen und Entlarven völlig abhanden gekommen ist, und auf die sie doch nicht verzichten können. Ohne das „Ungesagte", das an den Rändern nur überlebt, würde der dauernde Diskurs schnell verdorren und absterben - und das ist es, was die Teilnehmer am meisten fürchten.
Angelika Willig