Berlin. Etwa 70 engagierte Blattmacher aus der Psychiatrie,
Forensik und den Selbsthilfeverbänden nahmen vom
14. bis 16. Juni 1996 am 7. Bundestreffen der Psychiatriezeitungen in
Berlin-Friedenau, Kommunikationszentrum „KommRum", teil.
Der Grundgedanke „Von der Seele schreiben" bis „Gehör verschaffen" zog
sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltung. Die Redaktionsmitglieder
wiesen immer wieder auf die „emanzipatorische, empirische und therapeutische
Dimension" ihrer Arbeit hin. Auch das Göppinger Fachkrankenhaus
für Psychiatrie und Neurologie hat das erkannt. „Seelenpresse"
heißt die hauseigene Patienten- und Psychiatrieerfahrenen-Zeitung.
„Ich kann vieles besser bewältigen, wenn ich schreibe. Schreiben heißt für mich Überleben", berichtet Bemd Müller in der jüngsten Ausgabe. Auch die „Forensiker" und Mitarbeiter aus dem Maßregelvollzug der Westfälischen Klinik Schloß Haldem sorgen mit ihrem Blatt „Schloßgeister" bereits bundesweit für Furore. Kaum zu glauben, aber wahr: die Forensik-Patienten und Mitarbeiter dieser Klinik waren sogar bei „Radio Westfalica" für eine Stunde auf Sendung. Auf diese Weise konnte die Bevölkerung einiges über den Sinn und die Therapiemöglichkeiten des Maßregelvollzuges erfahren.
Mittlerweile beackern bundesweit etwa 70 Psychiatriezeitungen von „A" wie „Apfelbäumchen" über „P" wie „Platanenblätter" und „N" wie „Narrenspiegel" bis zu „Z" wie „Zasius" nicht nur die Themen „Leidensdruck", „Krankheit" und „Krise", sondem nehmen auch die Bedürfniswelt der Betroffenen unter die Lupe. Fast alle Blätter setzen sich mit der vielerorts herrschenden Gedankenlosigkeit im Umgang mit psychisch kranken Menschen auseinander. Einige gehen noch einen Schritt weiter, sie decken in kritischen Beiträgen die „Unkultur" der „Zwangspsychiatrie" auf, nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es um zweifelhafte Therapien geht. Beispielsweise fordert der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg e.V. ausdrücklich „ein Verbot des Elektroschocks sowie die Umwidmung öffentlicher Mittel, die bisher der Psychiatrie zugeflossen sind, in Projekte der Selbsthilfe".
Gast Nicola Keßler, Mitarbeiterin der Dokumentationsstelle „Literatur
aus der Psychiatrie", Universität Münster, wies in ihrer Stellungnahme
zum Projekt „Schreiben und Lesen in psychischen Krisen" darauf hin, "daß
kreative Selbstäußerungen von psychisch kranken Menschen sowohl
für die Kranken als auch für die Öffentlichkeit einen hohen
Stellenwert haben. Für die Öffentlichkeit ergibt sich die
Chance, durch die Betroffenen selbst in deren Innenleben und Situation Einblick
zu bekommen, Klischees und Angstgefühle gegenüber dem Phänomen
„psychische Krankheit", abzubauen und den Reichtum zu erkennen, der gerade
auch in den eigenwilligen und sensiblen Werken von psychisch kranken Menschen
vorhanden ist."
Dafür sorgten die Arbeitsgruppen „Kreatives Schreiben", „Kunst und Gedichte",
„Layout", „Finanzierungsmöglichkeiten" und „Die Auswirkungen der Flucht
von Herrn Holst auf unsere Öffentlichkeitsarbeit" für weitere kreative
Impulse.
Dagegen löste der Dokumentarfilm „Sichten und Vernichten - Psychiatrie im Dritten Reich" von Ernst Klee tiefes Entsetzen, Wut und Trauer aus. Eine Teilnehmerin schlug vor, die anschließende Aussprache mit Elvira Manthey, eine Überlebende der „NS-Euthanasie", abzusetzen. Dazu kam es aber nicht. Die Fragen, die sich aufgestaut hatten, mußten raus - und beantwortet werden.
Am nächsten Tag schlossen sich Tagungsteilnehmer und Bürger an
dem Ort, an dem von 1940 bis zum Kriegsende die zielgerichtete Vernichtung
von 200 000 Psychiatriepatienten geplant wurde, in der Tiergartenstraße
4 (T4), zu einem Demonstrationszug zusammen.
Nach den Gedenkreden von René Talbot (Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg e.V.), Elvira Manthey (NS-Zwangssterilisierte) und Gernot Reppmann (Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Saar e.V.) bewegte sich der angemeldete „T4-Umzug" durchs Brandenburger Tor bis zur Psychiatrischen- und Nervenklinik der Charité. Bei der Sterilisierung, d.h. seelisch-sozialen Verstümmelung von Menschen im NS-Staat haben auch Psychiater dieser Einächtung mitgemacht. Darüber berichtet auch Ernst Klee in „Sichten und Vernichten". Beispielsweise steht Professor Karl Bonhoeffer, Ordinarius und Direktor der Klinik bis heute im Ruf, „die Wahrheit der Forschung im Dritten Reich verteidigt zu haben".
Aber auch Bonhoeffer trat für die Ausmerzung des „Schwachsinns" ein
und arbeitete nach seiner Abschiedsvorlesung im Juli 1938 als Gutachter Sterilisierungsgerichten
zu. Bereits 1934 forderte Bonhoeffer in einem „Erbbiologischen Kurs"
in der Charité eine saubere Diagnostik bei der „Unfruchtbarbarmachung
geistig Minderwertiger". Klees Recherchen beweisen: „Die Deutsche Psychiatrie
wurde nicht von den Nazis mißbraucht, sie brauchte die Nazis." Die Ahnengalerie
der Berliner Charité zeigt noch heute Porträts berühmter
Direktoren, die an der Vernichtung menschlicher Existenzen beteiligt waren.
Neben Bonhoeffer haben z.B. die Professoren R. Thiele, ab 1949 Ordinarius
an der Humboldt Universität, und Prof. K. Leonard, Beisitzer am
Sterilisierungsgericht Frankfurt am Main, ab 1957 Ordinarius an der Humboldt
Universität, ihren Ehrenplatz gefunden.
Bedauerlich, kein Charité-Mitarbeiter suchte das Gespräch mit den Verantwortlichen der Demonstration. Einige sehen darin eine gewollte Strategie, die lautet: „Schwamm drüber!". Die Organisatoren wollen künftig offiziell auch Psychiater der Charité als Gäste in den Meinungsaustausch des „T4-Umzuges" einbeziehen.
Auf dem Treffen verabschiedeten die Teilnehmer ein Positionspapier zur „Vernetzung der Redaktionen", in dem die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) als Kooperationspartner favorisiert wird. Möglicherweise ist manches davon noch „unausgegoren", aber es existiert eine Idee. In der Arbeftsgruppe „Holst/Segal" ging es um die Auswirkungen der Flucht auf die Öffentlichkeit, besonders auf Psychiatrie und Forensik.
Platanenblätter-Redakteur Fritz Rudert betonte: „Falls Diplompsychologin Tamar Segal dem dreifachen Frauenmörder wirklich zu einer geeigneten Therapie verhelfen wollte, das muß nun das Gericht klären, würden sich verständlicherweise Fragen zu den Behandlungsmethoden in Hamburger Sicherungs-Psychiatrie ergeben." Entspannende Momente gab es natürlich auch, wie die Feier zum fünfjährigen Bestehen der „Platanenblätter", der Auftritt der Trommelgruppe „Komm-Rum", die "Nils Zauberschau" und natürlich auch die vielen persönlichen Begegnungen. Alle Redaktionsmitglieder und die Organisatoren; der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg e.V., die Irren-Offensive e.V., Redaktion der Zeitungen „Platanenblätter", „Der Bunte Spleen" und „Albatrotz" trugen mit dazu bei, daß auch das 7. Treffen der Psychiatriezeitungen über die Bühne gehen konnte.
Wir bedanken uns bei den Organisatoren und den Teilnehmern für die interessante Veranstaltung. Besonders bei René Talbot, Hartmut Seiffarth und Fritz Rudert (für den Erfahrungsaustausch und die Gastfreundschaft).
Anette Bunge, lngrid Kergel und Roland Hartig