Bericht von der 4. Konferenz des Europäischen Netzwerks von Psychiatrieüberlebenden von 18. - 21. 2. 99 in Luxemburg


Es nahmen ca. 90 TeilnehmerInnen aus 31 Ländern teil. Viele kamen aus osteuropäischen Ländern wie Slowenien, Polen, Ukraine, Ungarn. Jeweils 3 Delegierte aus einem Land sind stimmberechtigt. Sie wählen das Board , in dem jeweils ein Vertreter aus jeder Region sitzt. Europa ist in 6 Regionen aufgeteilt. Es gibt z.B. die Region der deutschsprachigen Länder bestehend aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Luxemburg und Belgien.


Am Freitag und am Samstag fanden jeweils regionale Treffen statt, in denen aus den einzelnen Ländern berichtet wurde und die VertreterInnen für das Board gewählt wurden. Am Sonntag fanden Wahlen für den Vorsitzenden des gesamten Netzwerks statt. Gewählt wurde ein Vertreter aus Ungarn. Außerdem beinhaltet das europäische Netzwerk ein Desk (Büro) in Holland, Utrecht und eine bezahlte Stelle, weil es dem Netzwerk gelungen ist von der holländischen Regierung Gelder zu bekommen.

Untergebracht waren wir in der Jugendherberge in Luxemburg in der Nähe der Altstadt. Am Donnerstag Abend war erstes Kennenlernen in der Bar der Jugendherberge. Ab Freitag wurden wir dann von zwei großen Bussen in ein Konferenzcenter gebracht.
Der Freitag begann mit einem Plenum, in dem jeder sich vorgestellt hatte. Die meisten waren VertreterInnen von Selbsthilfegruppen, es waren aber auch Einzelpersonen da.

Am Nachmittag hielte Joel Slack aus den USA eine Rede. Er ist Psychiatrieüberlebender und arbeitet als Wirtschaftswissenschaftler in der Psychiatrieplanung. Er hat ein Jahr in Malmö/Schweden gelebt und während der Zeit Europa bereist und viele Selbsthilfegruppen besucht, von denen er berichtete hat.

Danach war Bericht des Boards, des Sekretärs und des Newsletterherausgebers.
Das europäische Netzwerk bringt eine Zeitung (Newsletter) heraus, die in Schweden gedruckt wird. Der Herausgeber ist auch Mitglied des Boards. Er berichtete, daß der Newsletter oft zitiert wird und das es deshalb besonders wichtig wäre, daß er korrekt geschrieben ist. Er bekommt Zuschriften aus der ganzen Welt.
Das Board trifft sich 4 mal im Jahr. In letzter Zeit wurde viel Energie auf die Satzung verwendet. Besonders kompliziert ist, daß die Entwürfe immer von englisch in holländisch übersetzt werden müssen.


Am Abend haben wir eine Kunstgallerie besichtigt mit anschließendem Empfang.
Am Samstag fanden 6 parallele Arbeitsgruppen statt.
1. Moderne psychiatrische Behandlung: Verbesserung oder Verschlechterung?
2. Das medizinische Modell herausfordern
3. Interne Organisation
4. Nicht im Abseits
5. Ein Arbeitsplatz, ein Platz in der wirklichen Gesellschaft
6. Non verbale Kommunikation
Vorstellungen siehe unten, am Samstag Abend war ein Fest.

Am Sonntag waren Wahlen Berichte aus den Arbeitsgruppen und Abreise. Wer wollte und dann bessere Verbindungen hatte konnte bis Montag bleiben.
Insgesamt hat mir die Tagung sehr gut gefallen und es war ausreichend Raum für gegenseitiges Kennenlernen.
Im folgenden möchte ich die Arbeitsgruppen vorstellen. Diese Vorstellungen sind teilweise Übersetzungen aus dem Programm der Tagung


Zu 1.: Moderne Psychiatrische Behandlung: Verbesserung oder Verschlechterung?
Die Auswirkung von modernen "atypischen" Neuroleptika und Antidepressiva auf die Behandlung.

Argument 1:
Moderne psychiatrische Medikamente sind weniger schädlich für den Körper. Zum Beispiel verursachen sie weniger tardive Dyskinesie. Besonders die atypischen Neuroleptika wie Clozapine(Leponex), Olanzapine (Zyprexa), Risperidone (Risperdal), Sertindole (Serdolect, Zotepine (Nipolept) verursachen alle weniger tardive Dyskinesien. Atypische Antidepressiva z.B. Fluoxetine (Felicium, Fluctin, Prozac u.a.) werden als Glückspillen bezeichnet, die weniger Risiko haben. Beide Kategorien dieser neuen psychotropen Drogen erleichtern es im täglichen Leben zu funktionieren. Vor kurzer Zeit veranlaßte die Pharmaindustrie Patienten, die negative Erfahrung mit traditionellen Psychopharmaka haben, ihre Beschwerden zu berichten und zu veröffentlichen. Diese Praktik hilft, Mediziner von den positiven Wirkungen moderner psychiatrische Medikamente zu überzeugen und überzeugt Krankenversicherungen die teureren Medikamente zu finanzieren

Argument 2:
Moderne psychiatrische Drogen verursachen weniger motorische Beschwerden, aber schädigen mehr die inneren Organe, sie verursachen auch Rezeptor Veränderungen wie chronische Psychose bzw. Depression und er
höhen das Potential von Abhängigkeit - atypische Antidepressiva genauso wie Neuroleptika. Beide Gruppen erleichtern es im täglichen Leben für kurze Zeit zu funktionieren, aber mittel und langfristig tendieren die sozialen Möglichkeiten einer Person dahin, sich zu verschlechtern. Patienten, die von ihren Beschwerden berichten, die durch traditionelle Medikamente ausgelöst werden, werden nur mißbraucht als Werbemittel für die Verkaufszahlen moderner psychiatrischer Drogen. Sie sollen der Psychiatrie ein besseres Ansehen verschaffen und - die Freunde der Zwangsbehandlung freuen sich - sie finden ein bedeutendes Argument für Richter innerhalb und außerhalb der stationären Psychiatrie, Zwangsbehandlung zu verordnen.

Sollte das Netzwerk (vielleicht kritisch) versuchen mit der Pharmaindustrie zu kooperieren, nach Argument 1? Oder sollte -nach Argument 2- das Netzwerk noch vorsichtiger werden gegenüber psychiatrischen Medikamenten. Oder wird die moderne Entwicklung zu komplett neuen Schlüssen und Konsequenzen führen?

Zu 2: Das medizinische Modell herausfordern
Unsere eigenen Konzepte uns selbst zu verstehen, unsere Bedürfnisse, Schwierigkeiten und Stärken (ex)Konsumenten/Überlebenden betriebenen Initiativen, Projekte, Institutionen, Selbsthilfe spirituell bzw. Stimmenhöhrer). Die Arbeitsgruppe wird sich auf die vorhergehende Arbeit, die im Netzwerk getan wurde beziehen.

Sie hat 2 Ziele:
a) Kriterien für Pilotprojekte entwickeln, für die ENUSP (Europäische Netzwerk) später finanzielle Mittel beantragen kann und die als Modellprojekte realisiert werden könnten in verschiedenen Ländern gleichzeitig wie Verrücktenburgen, Weglaufhäuser Krisencenter, Arbeits- bzw. Kunstprojekte usw.. Wir werden diskutieren: Welche Art von Institutionen oder Räume wollen wir für uns selbst? Auf welche existierende Erfahrungen können wir aufbauen?

b) Das zweite Ziel ist über einen Rahmen zu reflektieren für systematische Annäherung an unsere eigenen Konzepte. Wie beschreiben und reflektieren wir unsere eigenen Erfahrungen? Welche Konzepte und Theorien haben wir? Das Stimmenhöhrernetzwerk könnte ein Beispiel sein. Wie können wir das existierende Wissen sammeln und austauschen? Wie wird das Netzwerk damit arbeiten?


Zu 3.: Interne Kommunikation
Kommunikation innerhalb des Netzwerks.
In der internationalen Arena ist ENUSP gut bekannt als NGO (Nichtregierungsorganisation), eine NGO auf die gezählt wird wenn es zu Aktivitäten und Projekten kommt wo die Stimme der Konsumenten/Überlebenden im Psychiatriebereich erhoben werden kann. Trotzdem, die Mehrheit von Konsumenten und Überlebenden der Psychiatrie -Mitglieder von Mitgliedsorganisationen- wissen nicht einmal das ENUSP existiert. ENUSP hat einen Kopf, aber der Körper ist sehr klein. Diese Situation muß verändert werden. Wie können existierende Werkzeuge weiterentwickelt werden und wie können Werkzeuge geschaffen werden die interne Kommunikation zwischen Desk, Board und Mitgliedsorganisationen und individuellen Konsumenten und Überlebenden in ganz Europa zu verbessern?
Welche Schritte müssen für bessere Beteiligung unternommen werden von Mitgliedsorganisationen und Individuen in Entscheidungen, Repräsentation und Entwicklung?

Zu 4: Nicht am Rande
Ermutigung von mehrfach diskrimierten Gruppen von (ex) Konsumenten/Überlebenden der Psychiatrie
Viele Leute am Ende psychiatrischer Dienste sind nicht nur wegen ihrer psychiatrischen Etiketten diskriminiert, sondern auch wegen ihrem Geschlecht, sexuellen Neigungen, nationaler /ethischer Identität, Religion, sozialen Klasse usw.. Zu mehr als einer stigmatisierten Minderheitengruppe zu gehören kann leicht bedeuten, man ist mehr Vorurteilen der Gesellschaft ausgesetzt, was dazu führt noch mehr in der Gesellschaft ausgegrenzt zu sein. Manchmal ist die Konsumenten/Überlebendenbewegung unsensibel gegenüber Problemen dieser Leute. Die Arbeitsgruppe wird sich auf gute Praktiken beziehen in der Ermutigung von (ex)Konsumenten und Überlebenden der Psychiatrie, die unter mehrfacher Diskriminierung leiden. Rechtliche und soziale Aspekte werden auch diskutiert. Empfehlungen werden gemacht, Strategien zu entwickeln
für erfolgreichere Ermutigung und weniger Marginalisierung. Diskriminierende Praktiken in der Bewegung und in ENUSP werden festgestellt und angegriffen. Empfehlungen für ein weniger diskriminierendes europäisches Konsumenten/Überlebendennetzwerk ist das erwartete Ergebnis der Arbeitsgruppe.

Zu5: Ein Arbeitsplatz ein Platz in der wirklichen Gesellschaft
Notwendige Schritte müssen gemacht werden als sofortige Antwort zu Arbeitsproblemen von (ex)Konsumenten und Überlebenden der Psychiatrie U. a. wurden Förderungsmöglichkeiten der europäischen Union für Psychiatrieüberlebenden vorgestellt. Normalerweise werden diese Töpfe weitgehend von Experten beansprucht. Die Frage ist, wie können Projekte gestartet werden, in denen die Gelder direkt Psychiatrieüberlebenden zu gute kommen.

Eleonore Ernst



Das Plenum im Werner-Fuß-Zentrum hat am 31.3. folgenden Kommentar einstimmig beschlossen:
Danke für diesen aufschlußreichen Bericht. Offensichtlich verhält sich das Netzwerk wie die Titanic auf der Jungfernfahrt: der Kollisionspartner ist entdeckt und durch ein Ausweichmanöver soll die Kollision vermieden werden. So schlitzt es sich den Bauch am unter der Oberfläche liegenden, großen unsichtbaren Gewaltteil der Psychiatrie auf, und versinkt unweigerlich.
Nur so hätte die Titanic gerettet werden können: Mittig auf den Eisberg draufhalten, den Eisberg spalten und damit die eigene Beschädigung so klein halten, daß das Schiff am schwimmen bleibt!

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