Die Irren-Offensive |
|
|
Zeitschrift von Ver-rückten gegen Psychiatrie |
Editorial
Psychiatrie - SystemabsturzDer Schwerpunkt der Irren-Offensive Nr. 12 ist die laufende Diskussion um die Novellierung des Betreuungsrechts. Angefangen hat sie mit der Überraschung, dass die Irren-Offensive inzwischen von den bundesdeutschen Ministerialen als repräsentative Betroffenen-Organisation bzw. wir als Experten angesehen werden. So wurden wir um schriftliche Stellungnahme zu dem Arbeitspapier der Justizministerkonferenz und deren Gesetzgebungsvorschlägen gebeten und zur Anhörung am 25.8.2003 nach Düsseldorf eingeladen. Was wir dort mündlich und schriftlich vorgetragen haben ,ist auf der folgenden Seite dokumentiert. In diesem Papier werden die Kernpunkte der Kritik vorgetragen. Entsprechend wurden sie mit eisigem Schweigen im Anhörungsraum durch die anderen „Experten” quittiert, nachdem wir sie verlesen hatten.
Kurz zu der Bedeutung des Betreuungsrechts für die Psychiatrie: Unterstellt, die Mystifikationen der bürgerlichen Gesellschaft sind zu ihrer Legitimierung und der Kaschierung von tatsächlichen Gewaltverhältnissen nötig, ist von folgendem grundlegenden „Gesellschaftsvertrag” zu sprechen: die Mitglieder der Gesellschaft verzichten auf ihre Gewaltmittel, sind z.B. unbewaffnet etc. und mandatieren dafür den Staat, allein legitimiert Gewalt auszuüben (Notwehr in engen Grenzen ist die Ausnahme). Aus dieser „gesellschaftsvertraglichen” Legitimation ergibt sich alle folgende Gewaltausübung des Gewaltmonopolisten Staat verbunden mit dem gesellschaftlichen Auftrag, Legales und Illegales zu scheiden. Selbstverständlich haben die Gesellschaftsmitglieder für diese Überlassung des Schwertes etwas eingetauscht: neben einem Justizapparat und seiner Exekutive, der Streitigkeiten untereinander fair regeln soll, ist es vor allem das Sozialstaatsprinzip: die Fürsorgepflicht des Staates - kurz gesagt, jede/r muß würdig leben können (§ 1 GG!) auch wenn sie /er keine eigenen Finanzierungs-Mittel haben sollte.*
Mit dieser Fürsorgepflicht des Staates werden die psychiatrischen Grausamkeiten legitimiert: Um ein extralegales Straflager schaffen zu können, wird zur Begründung der Wille des Betroffenen, ja sein ganzes intentionales Denken, negiert, um dann zu unterstellen, dass die Strafmaßnahmen zum Besten des Bestraften seien, weil er ja selbst nicht mehr entscheiden könne, was gut für ihn ist. Damit werden Personen mit abweichendem Verhalten, ungewöhnlichen Gedanken- und Gefühlsäußerungen willkürlich internierbar, und die eingesperrten Menschen können jeder körperverletzenden Grausamkeit durch Zwangsbehandlung unterzogen werden. Um diese willkürliche Negierung des intentionalen Denkens eines Erwachsenen dauerhaft zu installieren, hat sich der Gesetzgeber die Entmündigung einfallen lassen. Der Vormund ersetzt die willentlichen Äußerungen seines Mündels und wird so zur vorgeschalteten Ersatzperson. Gleichzeitig ist darin der Kern der psychiatrischen Logik zu sehen: Denn wenn eine Entmündigung gegen den Willen des Betroffenen unmöglich werden sollte, kollabiert das Konstrukt der Negierbarkeit intentionalen Denkens einer Person und damit die Möglichkeit, „zum Besten” der Person zu strafen. Alle „Fremd- und Selbstgefährdungs”-Rhetorik fällt hinter diesen psychiatrischen Kern zurück, da man sich ohne angebl. „Geisteskrankheit” problemlos selbst gefährden darf oder ein Straftatbestand konkreter Gefährdung (z.B. Steine von einer Brücke auf eine Fahrbahn werfen etc.) erfüllt sein muß, um als Gesellschaftsmitglied bestraft werden zu können. Juristisch eingebunden wird der Kern psychiatrischer Logik in den Begriffen vom „freien” Willen des „Gesunden” und dem angebl. nur „natürlichen” Willen des Geisteskranken, dessen erklärter Wille damit bedeutungslos gemacht wird und negiert werden kann. Dass die Kriterien für freien Willen - „Urteilsfähigkeit” in Verbindung mit der „Fähigkeit, nach dem eigenen Urteil zu handeln” - keiner Logik folgt, weil nur der zirkuläre Schluß einer Catch 22-Situation wiedergegeben wird, weist unsere Stellungnahme vom 25.8.03 nach.
Wie kommt es nun zum Systemabsturz? Dieser hat eine Geschichte, die ca. 1960 begann, als durch die Veröffentlichungen von Thomas Szasz und Michel Foucault die radikale Kritik das Milieu der Entmündigten bzw. diskreditierten Betroffenen verließ und im Unterdrückungsapparat Wissenschaft selbst Fuß faßte: die Studentenrevolte und geistig unabhängige Akademiker beförderten die ideologische Emanzipation von der kolonisierenden Unterdrückungsmaschine Psychiatrie. Eigenständige politisch organisierte Gruppen von Betroffenen entstanden, wie z.B. 1980 die Irren-Offensive. 1992 war es dann soweit: Entmündigung wurde in „Betreuung” umbenannt und dieser Wortwechsel damit begründet, dass erstmals der Entmündigte (ganz überraschend!) DOCH eine rechtserhebliche Willensäußerung machen kann: seither soll er sich die Person des gerichtlich verordneten Vormunds wünschen können, und dieser Wunsch muß Berücksichtigung finden. Damit war die Nihilierung aller Intentionen der Betroffenen durchbrochen, die Geschäftsfähigkeit wurde in Aufgabenfelder parzelliert, und weitere Zersetzungsphasen des Systems waren vorprogrammiert: im unangezweifelt geschäftsfähigen Zustand konnte man nach einer Gesetzesnovelle ab 1.1.1999 eine Vorsorgevollmacht (Vo-Vo) unterzeichnen und damit rechtswirksam jede psychiatrische Zwangsmaßnahme ausschließen. Denn der „freie” Wille kann mit Hilfe der Vo-Vo rechtswirksam und unbezweifelbar durch den Bevollmächtigten dann geäußert werden, wenn dies dem Vollmachtgeber bestritten wird. Der Bevollmächtigte wird in unserem Vorschlag einer Vo-Vo an die Verhinderung jeden psychiatrischen Zwangs vertraglich gebunden, was durch einen Anwalt überwacht wird. Damit war das Schlupfloch aus dem Zwangsystem gefunden, das System geknackt.
Mit diesem neuen Selbstvertrauen konnte dann auch verhältnismäßig leicht die reaktionäre Attacke aller Parteien abgewehrt werden, mit Hilfe eines neuen § 1906a die ambulante Zwangsbehandlung einzuführen. Innerhalb von 3 Monaten machten alle Parteien einen Schwenk um 180 Grad und sprachen sich im Bundestag gegen diesen im November wie aus dem Hut gezauberten Folterparagraphen aus, weil wir nach entschiedenem Protest auf der Straße auch seine Unvereinbarkeit mit der Verfassung nachweisen konnten. Eine Chronologie der Kampagnen gegen den 1906a und die dabei geschmiedeten Allianzen ist auf Seite 4 zu finden.
Dieses Schlupfloch jetzt zum Scheunentor zu erweitern, ja das System zum Absturz zu bringen, ist das - möglicherweise unbeabsichtigte -Verdienst der Bundesregierung Hand in Hand mit der FDP: Seit dem 10.6.04 ist von Bundesjustizministerin Zypries die Unterstützung eines Gesetzentwurfs als weitere Änderung des Betreuungsgesetzes auf dem Tisch, in dem ab 1.1.2005 die definitive Verbindlichkeit einer sog. „Patientenverfügung” festgeschrieben werden soll: ein neuer § 1901 b soll eingefügt werden: … Liegt eine Patientenverfügung über die Einwilligung oder die Verweigerung der Einwilligung in bestimmte ärztliche oder pflegerische Maßnahmen vor, die auf die konkrete Entscheidungssituation zutrifft, so gilt die Entscheidung des Betreuten nach Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit fort. Dem Betreuer obliegt es, diese Entscheidung durchzusetzen, soweit ihm dies zumutbar ist. Das gilt auch dann, wenn die Erkrankung noch keinen tödlichen Verlauf genommen hat.
(2) Der Absatz 1 gilt auch für Bevollmächtigte, soweit der Vollmachtgeber nichts anderes bestimmt hat.
Eindeutig soll die Rolle des Vormundschaftsgerichts gesetzlich in § 1904 festgelegt werden:
…Liegt eine ausdrückliche, auf die Entscheidung bezogene Erklärung des Patienten vor, so hat das Vormundschaftsgericht festzustellen, dass es seiner Genehmigung nicht bedarf. (Quelle: http://www.bmj.bund.de/media/archive/695.pdf Seite 42, 43)
Am 29.6.04 hat sich die FDP-Fraktion im Bundestag zu einer Übernahme der wesentlichen Positionen von Zypries entschlossen und ihren Antrag eingereicht - ein gutes Zeichen für den Bundesrat! Das wichtigste Zitat daraus: "Therapiewünsche, Therapiebegrenzung und Therapieverbote durch Patientenverfügung sind für jeden Zeitpunkt eines Krankheitsverlaufes möglich. Zwangsbehandlungen sind vor dem Hintergrund von Menschen-würde und Selbstbestimmungsrecht auch bei nicht-einwilligungsfähigen Personen auszuschliessen.”
Wenn diese Regelungen am 1.1.2005 Gesetz geworden sind, bedeutet dies den Systemabsturz der Psychiatrie, denn nirgends ist von irgendeiner Ausnahmeregelung für die Psychiatrie die Rede - wie gäbe es dafür auch nur irgendeine Begründung? Und dann ist es praktisch soweit: mit verschiedenen Mitteln wie Vo-Vo, Bochumer Willenserklärung, dem von Thomas Szasz schon 1982 vorgeschlagenen „psychiatrischen Testament”(1982j) oder neuen, noch einfacheren Vollmachtsformularen wird man jeden psychiatrischen Versuch, Zwang auszuüben, im Keim ersticken können, denn ohne vormundschaftlichen Segen werden diese Versuche zu strafrechtsbewehrten Verbrechen: Freiheitsberaubung und Körperverletzung. Dann ist es soweit, dass „psychisch krank” nur noch sein kann, wer das auch sein will! Alle verleumderischen psychiatrischen Krankheitszuschreibungen werden zur reinen Wunschdiagnose. Wenn man sie gebrauchen kann - für einen gelben Schein, einen Rentenantrag oder um eine andere Krankheitsvergünstigung zu bekommen, dann sei sie recht - denn das Straflager „Geschlossene” droht nicht mehr.
[*] Daraus ist eigentlich schon das Recht auf Faulheit abzuleiten, denn das Recht, ein würdiges Leben führen zu können, muß auch für Gesellschaftsmitglieder gelten, die nicht arbeiten wollen. Logischerweise ist deshalb auch in §12 GG die Zwangarbeit verboten. (wichtig für die Diskussion um das Verbrechen von Hartz IV)
Beschluß des Plenum des Werner-Fuß-Zentrum vom 21.7.2004