Die Irren-Offensive |
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Es gibt keine "psychische Krankheit", nur Rufmord verbrämt als "Diagnose" |
Vorlesung
geplatzt ! Kritische Diskussion statt Zurschaustellung eines Kindes in der Uni Marburg 19.6.2006. Dieser Text wurde von StudentInnen der Uni Marburg zusammen mit Aktivisten der Irren-Offensiven Marburg und Berlin verlesen und verteilt. Liebe Kommilitoninnen
und Kommilitonen, Statt der voyeuristischen
Vorführung eines Menschen mit dem Etikett einer psychiatrischen
Diagnose, hier „Störung des Sozialverhaltens“, soll es
heute um etwas anderes gehen: Auseinandersetzung mit den Methoden dieses
Seminars, mit den Grundannahmen des medizinisch-psychiatrischen Weltbildes
und der gesellschaftlichen Funktion und Auswirkung der psychiatrischen
Praxis. Kurz, heute soll etwas nachgeholt werden, das eigentlich selbstverständlich
sein sollte: Kritische Selbstreflexion. Es gibt kaum ein Seminar, das zynischer mit seinem menschlichen Forschungsobjekt umgeht, als es hier der Fall ist. Wir wissen von keinem anderen Fall an der Marburger Uni, in dem Menschen so bedenkenlos und voyeuristisch zur Schau gestellt, ihrer Würde beraubt und zum bloßen Objekt des Verfahrens degradiert werden. Psychiatrisch
verleumdete Menschen werden ohne ausreichende Vorbereitung auf eine
Schaubühne gestellt, auf der sie den Blicken fremder Menschen
schutzlos ausgeliefert sind. Gerade Kindern und Jugendlichen bleibt
keine Möglichkeit, sich dieser entwürdigenden Zurschaustellung
zu entziehen. Ihnen wird das Recht auf Selbstbestimmung sowohl durch
die psychiatrische Diagnose als auch auf Grund ihrer Stellung als Minderjährige
aberkannt. Die in dieser Art
von Vorlesungen praktizierte „professorale Gesprächstechnik“
erinnert an eine Verhörsituation. Es sollen Einblicke gewonnen
werden, welche in Gebiete vordringen, die im normalen Leben zu Recht
verborgen bleiben und zu den intimsten Bereichen der Privatsphäre
zählen. Niemand möchte alles über sich preisgeben und
genau in der Kontrolle darüber, welche Informationen, die eigene
Person betreffend, offengelegt werden, liegt eine wesentliche Grundlage
der Würde eines Menschen. In der heutigen
Sitzung sollte es ursprünglich um „Störung des Sozialverhaltens“
gehen. Aber was soll eigentlich „gestörtes Sozialverhalten“
sein? Und: Ist die Ausnutzung schutzloser Menschen zum Zwecke der Steigerung
der eigenen wissenschaftlichen Reputation hierunter zu fassen? Offensichtlich
sind hier Kriterien entscheidend, nach denen eine Kategorisierung in
richtiges und falsches Sozialverhalten vorgenommen wird. Woher aber
stammen diese Kriterien und wer definiert sie? Wenn etwa bis vor kurzem
Homosexualität als angebliche „Geisteskrankheit“ angesehen
wurde, die zu psychiatrischer Verfolgung führen konnte, dann wird
ersichtlich, dass diese Kriterien einem historischen Wandel unterliegen
und in den jeweiligen sozialen Kontexten und innerhalb bestimmter Macht-verhältnisse
entstehen. Verhaltensweisen, die von der herrschenden Norm abweichen,
werden zu psychischen Krankheiten erklärt. Dies alles geschieht
unter dem Deckmantel der Wissenschaft und mit staatlicher Legitimation.
Nun also ist es Zeit zu fragen: Was ist das für ein Verständnis
von Wissenschaft, das einen derartigen Zynismus zulässt? Die psychiatrische
Menschenverachtung hat in Deutschland eine besondere Tradition: In Marburg wurde
die Kinder- und Jugendpsychiatrie von den Professoren Werner Villinger
und Hermann Stutte mitbegründet. Diese haben eine prägende
Rolle für die wissenschaftliche Ideologie des Dritten Reiches gespielt.
Im Rahmen seiner Nachforschungen für seine Habilitationsschrift
über sämtliche Gießener Fürsorgezöglinge unterschied
Stutte „die Sozial Brauchbaren“ von den „Sozial-Minderwertigen“
(Wolfram Schäfer: Spuren einer „verschwundenen“ Habilitationsschrift,
Hermann Stuttes Forschungen in der NS-Zeit, Marburger Universitäts-Zeitung
Nr. 229 vom 19.11.1992, S.6). In dieser Zeit führte eine solche
Selektierung in der Regel zu Zwangssterilisation oder kam für
die sogenannten „Unbrauchbaren“ sogar einem Todesurteil gleich.
Zu der Rolle von
Stutte fand in der Oberhessischen Presse eine öffentliche Diskussion
statt, zu der sich auch Remschmidt äußerte, indem er die
Person Stuttes, vor allem unter Bezugnahme auf dessen angeblichen menschlichen
Wandel nach 1945, verteidigte. Noch 1972 schlug
Stutte „im Namen des wissenschaftlichen Beirates der ‚Lebenshilfe’“
vor, „doch gleich alle ‚geschäftsunfähigen
Personen’ sterilisieren zu lassen - ein Vorschlag, der ganz direkt
aus dem Arsenal der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik
entliehen ist“. (Udo Sierck: ‚Lebenshilfe’ und Tötungshilfe.
In: Tödliche Ethik. Beiträge gegen Eugenik und ‚Euthanasie’,
Verlag Libertäre Assoziation: Hamburg 1990, S.32-35). Hierzu verteilen
wir Zeitungsartikel an euch. Das Geschehen in
der Psychiatrie bleibt hinter verschlossenen Türen verborgen. Für
eine Gesellschaft ist es der einfachste Weg, Menschen, die sich nicht
anpassen können oder wollen, in die Psychiatrie abzuschieben und
wegzusperren. Die dort praktizierten Menschenrechtsverletzungen, wie
erzwungene Psychopharmakaeinnahme und Fesselung (sog. Fixierung), werden
als „erzieherische“ und „therapeutische“ Maßnahmen
dargestellt. Dies verschleiert die gesellschaftliche Funktion der Psychiatrie
als eine Institution, mittels derer soziale Kontrolle über Menschen
ausgeübt wird. Hier in dieser
Vorlesung wird Euch suggeriert, dass ihr einen Einblick in die Psychiatrie
erhaltet, obwohl ihr nur Menschen vorgeführt bekommt, die in ein
bestimmtes „Krankheitsbild“ passen sollen. Diese Menschen
werden hier nur zum Zweck der Krankheitsbestimmung instrumentalisiert.
Werden Menschen
einmal als „krank“ bezeichnet, so bleibt diese Diagnose vermutlich
ein Leben lang bestehen und wirkt sich dementsprechend auf alle möglichen
Lebensbereiche aus. Liebe Studierende,
bedenkt: |